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Liebe Michelle

  • Vera Rieger
  • 18. Aug.
  • 5 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 31. Aug.

Ich versuche jetzt einfach zu schreiben, einfach diese Tasten unter meinen Fingern zu spüren, das leise Ticken zu hören und zuzusehen, wie der weisse Bildschirm vor meinem Sichtfeld sich langsam schwarz färbt, nur ein kleines Bisschen. Und das hilft, es hilft wirklich, gegen die Angst, die Angst vor Allem, vor allem vor dem nichts Hinbekommen, was Organisation und Ordnung und Alltag ist, Essen, Kleidung, Pflege, Arbeit, das Gefühl, dass das ganze Leben eigentlich nur ausschliesslich aus Organisation und Ordnung besteht, denn wie soll ich sonst in 20 Jahren jemandem Bilder von meiner Jugend zeigen, anständige Kleider haben oder überhaupt Dinge besitzen. Ich bekomme halbe Panikattacken, wenn ich eine Person sehe mit einem vollgepackten Fahrrad und Campingausrüstung. So viel Ausrüstung, so viele Dinge, die alle geordnet werden müssen. Sauber gehalten. Da ist das Gefühl, zu zerfallen, langsam, keine Interessen mehr, die Lähmung, kein Handeln, keine Identität und ständig nur Gedanken und die Angst.  

 

 

Liebe Michelle

 

Fangen wir noch einmal von vorne an. Du weisst, dass mir der heutige Brief alles andere als einfach fällt. Aber ich möchte trotzdem unbedingt wieder schreiben. Denn ich habe seit dem letzten Brief fast nichts geschrieben, auch wenig für mich, vielleicht mal besorgte Tagebucheinträge, doch auch die gab ich irgendwann auf, da sie mir redundant vorkamen. Aber ich möchte wieder schreiben, unbedingt. Denn eigentlich mag ich das doch so sehr.

 

Auch wenn wir beide schon oft darüber gesprochen haben, dass das hier auch eine Art Performance ist und die Menschen, die uns lesen, uns dadurch nicht so gut kennen, wie sie vielleicht denken, möchte ich eine gewisse Verletzlichkeit zulassen. Denn darum geht es ja letztendlich, oder?

 

Der Sommer ist für mich, ich sage es hier jetzt offen und ehrlich, da ich glaube, dies auch zugeben zu dürfen – ein verlorener. Mein Kopf ist immer noch nicht nett mit mir – so würde es F. sagen. Er lässt mich wenig schaffen und schlafen. Noch weiter ins Detail gehen möchte ich nicht, da meine Sorgen so unglaublich trivial und langweilig sind und ich Selbstmitleid hasse. Ausserdem weiss ich, wie privilegiert ich bin, ein Dach über dem Kopf, finanzieller Rückhalt, Freunde, eine Beziehung, sicheres Land, etc. Diese Dinge schätze ich. Ich gehe fast jeden Tag schwimmen, Wasser lässt mich ein klein wenig besser denken. Und immerhin habe ich gute Abende, in denen ich einfach alles vergesse.

 

Ein solcher Abend war vorgestern. Ich war am Aurora-Konzert an den Winterthurer Musikfestwochen, Zaho de Sagasan spielte als Vorband. In solchen Momenten wird mir bewusst, was Musik und Kunst kann. Ich habe keinen Lieblingskünstler oder Lieblingskünster:in, wo ich sagen kann, dass mich die Musik immer beruhigt. Es ist sehr situationsabhängig. Aber eine gute Liveshow haut mich in den meisten Fällen vom Socker. Und so auch diese. Die Energien dieser Frauen waren einfach unvergleichbar, beide auf ihre eigene Art. Es gibt auch selten Konzerte, bei denen ich fast alle Lieder kenne, hier aber schon. Mir wurde wieder bewusst, wie sehr ich eigentlich Tanzen mag, auf diese Art und Weise nehme ich Musik am liebsten in mir auf; mich bewegend, in meinem Körper. Ich konnte noch nicht voll abgehen wegen meines Knies, aber einiges war schon möglich, was mich sehr freute. Danach schmerzten meine Füsse unglaublich, da ich schon Monate nicht mehr 6 Stunden am Stück gestanden bin.

 

Du hast mich vor unserer Sommerpause einmal gefragt, ob ich über Musik schreiben könne, und das möchte ich gerne tun. Ich finde es gar nicht so einfach, darüber zu schreiben. Lange war mein Alltag geprägt vom selbst Musik machen, also vom Singen. Daneben war ich praktisch täglich auf kleinen Konzerten oder Vorspielen von anderen. Daher hörte ich privat wenig Musik. Vom Musikkonsum her prägte mich eher mein Umfeld, also ihr. Seit ich nicht mehr täglich übe, höre ich tatsächlich mehr Musik, aber nicht im Masse wie andere und auch nicht im gleichen «Flow», wenn ich das so sagen kann. Manchmal ist es auch ein ambivalentes Verhältnis, da ich das Gefühl habe, ich sollte auch auf dieser Bühne rumhüpfen, dass es meinem Naturell entsprechen würde, exzessiv abgehen, auch wenn ich niemals das nötige Talent dazu hätte.

 

Ich lasse meine Erlebnisse vom Sommer hier aus, sie sind nicht so erwähnenswert, ich war an Orten und habe Dinge gemacht. Es war oft sehr schön.

 

Stattdessen noch etwas aktuelles zum lieben Internet. Mit F. habe ich letzten Sonntag ein Comedy-Reel aufgenommen, ehrlich gesagt auch aus dem Gefühl der kreativen Untätigkeit heraus, besonders für mich. Ich wollte irgendetwas produzieren. Der Algorithmus schien uns zu mögen und so haben wir nach einer Woche 160'000 Aufrufe, ein erster Hatekommentar (das hat mich am meisten gefreut) und einige Gender-hater, ein Kommentar einer Schülerin von mir «lol, mini Musiklehrerin» und meine Schulleiterin sprach mich beim Fototermin auch darauf an. Es war etwas scary und machte mir nochmals bewusst, wie unberechenbar diese Algorithmen sind. Aber auch spannend, das zu beobachten. Gestern nahmen wir nochmals etwas auf, aber das interessiert niemanden haha. Ich glaube meine Influencerkarriere ist somit beendet. Ich spüre selten Freude beim Schauen von Reels (ausser bei richtig guten Stand-up clips), wieso sollte ich auch etwas für diese Plattform kreieren. Ich sehne mich nach diesem ultrabefriedigen Gefühl, welches sich nach einem richtig guten Buch einstellt. Das hatte ich schon lange nicht mehr, da ich zu wenig Konzentration zum Lesen habe. Oder eben nach einer guten Liveshow. Mal schauen, vielleicht mache ich trotzdem weiter Videos, wenn es Spass macht.

 

Ansonsten passierte Schulanfang, ich schlage mich durch. Davon vielleicht nächstes Mal etwas mehr, da ich die Kinder noch nicht so gut kenne. Ich kann mir aber vorstellen, dass es ein paar Stories gibt.

 

Ich ende mit einem kurzen Werbeblock! Obwohl ich nur minimal involviert bin, möchte ich auf RUGBEER nächsten Samstag aufmerksam machen, das jährlich Event von unserem Rugbyclub mit Rugby und Bier (surprise!). Ich glaube, es wird toll und alle in Basel sollten vorbeikommen.

 

Du meintest letztens, meine Briefe seien immer etwas wirr und das wäre mein Stil. Deswegen, nun um dieses Wirrwarr wenigstens geordnet abzuschliessen, begebe ich mich in die Kategorien.

 

Etwas zum Lesen: Das letzte Buch, durch das ich mich gekämpft hatte, war the Vegetarian von Han Kang. Nicht mein Favorit, aber es lässt sich schon lesen, ziemlich heavy stuff.  

 

Etwas zum Hören: Cure for me von Aurora.

 

Etwas zum Glotzen: Immerhin habe ich wieder etwas mehr geglotzt. Ich schaue selten Serien ein zweites Mal, aber zurzeit gerade «Stranger Things», da bald die letzte Staffel kommt und es ist ein must-watch. Oder "Relay", bald im Kino, haben wir beim der Surprise Night des Open Air Cinemas geschaut.

 

Etwas zum Essen: Passend zum Lektüretipp: Vegilasagne von N., wahrscheinlich das beste Essen, das ich diesen Sommer hatte.

 

Wort der Woche: Wasserheilung.

 

Mit ganz viel Liebe

 

Vera


Aurora in action
Aurora in action

 
 
 

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