Liebe Michelle
- Vera Rieger
- vor 19 Stunden
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 7 Stunden
09.12, am Schreibtich und nachts im Bett
Sodeli, sodeli, endlich schreibe ich. Wurde aber auch Zeit. Vorgestern Nacht hatte ich ein paar Zeilen begonnen, dann aber einfach nicht mehr gefunden. Da fühlte ich mich plötzlich zurückversetzt in die Zeit, als Worddokumente noch verloren gingen, weil wir sie nicht abgespeichert hatten - dieser konstante Stress. Als Dokumente aus irgendwelchen Mailverlaufen hervorgefischt werden mussten, du weisst, was ich meine. Diese Version habe ich aber tatsächlich auch nicht mehr gefunden, obwohl ich Chatty gefragt hatte, wie ich es wiederherstellen kann, waren aber wirklich nur ungefähr 6 Zeilen. (Plottwist: ich hatte sie in meine Notizen geschrieben, ich gebe hier nur den ersten Satz preis):
„Werden sie sich irgendwann auszahlen, all die Stunden, die ich barfuss auf dem kalten Balkonboden stand. Die kalte Nachtluft in mich einsog, den Frühling spürte, den Sommer sah, den Herbst roch und denn Winter hörte.“
An einen anderen Gedanken von der Nacht kann ich mich noch erinnern: Es stimmt, dass wir vor zwei Jahren, als wir diesen Gedankenaustausch begonnen hatten, viel ehrlicher waren. Und ich fand es so schön, wie du im letzten Brief wieder zu dieser Verletzlichkeit gefunden hast. Ich glaube, dass ich das momentan nicht schaffe, auch aus Angst mich zu wiederholen, überdrüssig zu werden, kurzum: zu langweilen. Deswegen versuche ich es mit etwas sehr Belanglosem (was vielleicht noch mehr langweilt):
Wie im Film haben wir einen Nachbarn oben, der so richtig laut stöhnt. Ich bin manchmal etwas verwirrt, weil ich dachte, dass da auch Kinder wohnen, aber er führt seine Lustspiele wirklich zu allen Tages- und Nachtzeiten genüsslich durch. Egal ob 9 Uhr morgens, 2 Uhr nachmittags (an einem Mittwoch) oder 11 Uhr abends. Ich gönne es ihm. Ich weiss nicht, ob da jeweils eine andere Person daran beteiligt ist oder nicht…. Glücklicherweise bin ich wie gesagt nicht ganz sicher, welcher Nachbar das es ist, denn unser Lift ist doch etwas eng.
Unsere Wohnung macht sowieso gerade etwas zu schaffen, denn es ist auch jetzt – im «Winter» immer unglaublich warm, obwohl wir nicht heizen. Tagsüber mag das angenehm sein, aber nachts bei 22 Grad ist einfach ungeil und ungesund. Vielleicht ist es dieser stöhnende Nachbar, der seine Wohnung auf 30 Grad heizt. Passend zur Wärme: was geht gerade? Dieser Winter will nicht richtig Winter sein gerade, die Bäume sind verwirrt und wissen nicht, ob sie schon Knospen bilden müssen. Meine dänische Dentalhygienikerin meinte heute, dass sie Gerüchte gehört hätte von Frühlingsblumen, die schon spriessen würden, weil sie so verwirrt sind ab den Temperaturen.
Themawechsel:
Michelle, wo siehst du dich in 5 Jahren?
Diese Frage soll ich für meine Therapeutin beantworten, ohne das grassierende Gefühl, in vielerlei Hinsicht eingeschränkt zu sein und gewisse Dinge schlicht nicht zu können. Da ich meine Hausaufgaben noch nicht gemacht habe, machen wir die jetzt zusammen. Ich mag es grundsätzlich, mir Briefe an mein zukünftiges Ich zu schreiben. Ich habe letztens beim Durchschauen meiner Notizen der Uni Basel folgendes Briefchen gefunden, schon etwas älter:
Pour Vera, le 12.11.2024 (dann sollte ich es lesen)
08.05.2024, Hallo Vera vo dr Zuekunft. Ich hoff, es goot dir guet. Es isch jetzt dunkel & das isch hart, aber du schaffsch das. ich hoff, du hesch e guete Summer gha und New York isch crazy gsi. Ich hoff, dass du nümme de konstanti lebenshinterfrogendi Stress hesch & nit zu lost bisch. Jetzt grad hinterfrogi im Analyserkurs widr chli viel. (Geld, Interesse, Materiels, etc.) Abr ich weiss, dasses nit nötig & s’Läbe schön isch. D’Sunne schiint, was sehr toll ich. Ich hoff, dass du e schöne Geburtrag gha hesch, 24 isch e schöns Alter & du söttsch es e bizzeli gniesse! Bisch no am singe oder schribe.
Ich lasse das so stehen und formuliere Wünsche für in 5 Jahren. Die Aufgabe finde ich sehr schwer. Wo will ich sein mit 30?
Zuerst ein paar rationale Ansätze:
Ich habe mein ADHS endlich im Griff, egal ob durch Strategien oder Medikamente.
Ich schlafe nachts grundsätzlich durch und täglich circa 7 Stunden.
Ich verdiene genug, um meinen Lebensunterhalt einigermassen komfortabel zu bestreiten in einem Job, der mir gefällt und dem ich mir gewachsen fühle
Ab und an betrinke ich mich an einem Fest.
Ich habe einen funktionierenden Körper, der es mir erlaubt regelmässig Sport zu treiben.
Ich habe eine Wohnung, die ich mag und der ich mich wohlfühle.
Ich habe eine stabile Beziehung und bin kann viel geben.
Ich habe gute Freunde, die ich oft sehe, die ich zum Essen einladen kann.
15.12, in der PH-Bibi (Es ist jetzt kalt)
Sehr überschaubar alles, finde ich. Da ist aber auch eine träumerische Version meiner Zukunft auf welche ich schon länger nicht mehr zurückgegriffen habe, sie existiert aber noch irgendwo in meine Hinterkopf. Da sind Farben, ein Haus mit vielen Stimmen, Kinderstimmen, andere Stimmen, Musik, Hühner im Garten, manchmal bin ich da, manchmal bin ich weg, im Ausland, schreiben, Bühne, kreatives Schaffen, Hühnergegacker, Co-Irgendwas, Chaos, aber überschaubar, schaffen, Lachen, kreieren.
Diese Version braucht einen klareren Schliff.
Nun noch ein paar Worte zum doch schon fortgeschrittenen Advent, beziehungsweise ein paar schöne Dinge, die passiert sind.
A. hat zu seinem jährlichen Weihnachtsessen eingeladen und sich dabei selbst übertroffen. Wir haben sehr gut gespiesen, der Tisch war wunderbar schön gedeckt und das Geschenkespiel hat auch gescheppert.
Du hast deinen Geburtstag gefeiert.
Ich durfte an einem legendären letzten Slam einer Reihe in Frauenfeld teilnehmen.
Ich war in Paris mit E. und A. aus Frankreich.
Letzte Woche hatte ich vo 5 Abenden 4 Weihnachtsessen.
Ich habe einen Adventskranz upgecykelt. Mit 9 Tage Verspätung.
Weniger schöne Dinge, die passieren werden:
Wie du weisst, muss ich noch einmal unters Messer, mein Knie hat sich vernarbt. Deswegen werde ich nun kurz vor Weihnachten noch einmal stillgelegt. Das ist scheisse. Ich vermisse die Zeit, als ich noch unkaputtbar war.
Somit kommen wir auch schon zu den Kategorien:
Etwas zum Lesen: Rezepte aus der weihnachtlichen Werbung, die momentan ins Haus flattert.
Etwas zum Glotzen: Natürlich Stranger Things, 5. Staffel. Ich möchte aber unbedingt wieder mehr ins Kino. Auf meiner to-watch-Liste stehen ein paar Schweizer Filme: Love Roulette, Hallo Betty und I love you, I leave you.
Etwas zum Hören: Am Black Friday habe ich mir ein Audible-Abo gegönnt. Gerade höreich mich Misery von Steven King. Ich muss mich extrem konzentrieren bei Hörbüchern und kann wirklich nur sehr einfach Dinge tun daneben. Aber grundsätzlich Steven King, da bist du ja auch Expertin.
Etwas zum Essen: Pizza mit selbstgemachtem Teig. Ich habe unterschätzt, wie einfach es ist, Pizzateig selbst zu machen.
Ich freue mich auf deinen nächsten Brief und hoffe, dass ich hier wieder in einen Flow finden werde. Zum ersten Mal trage ich Akrylnägel, was geil ist, aber auch das Schreiben schwerer macht.
Alles Liebe an alle da draussen.
Vera
PS: Danke, dass du immer für mich da bist und mich zwingst, weiter zu machen, danke für dein süsses Adventsbriefchen, die Gutzi und danke für die Freundschaft <3










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