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Liebe Vera

  • Michelle Harnisch
  • 9. Sept.
  • 5 Min. Lesezeit

3. September 2025

Es ist noch nicht Brief-Zeit, aber gerade muss ich Dinge aufschreiben. Ich habe mich schon mit dir und mit anderen darüber ausgetauscht, daher habe ich mich etwas beruhigt, aber immer noch rumort es in mir.

 

Es ist Mittwoch, und ich bin wütend. Wegen eines Hausarztes, der sich weigert, mir die Sachen zu verschreiben, die ich brauche. Zu denen mir meine Therapeutin geraten hat. Medikamente, die ich seit einigen Jahren nehme, die mir helfen. Und mit der Wut fühle ich eine Ohnmacht. Denn was bringt mir das Visionboard neben meinem Pult, die drei Ratgeber-Bücher auf meinem Nachttisch, die Strukturen, die ich mir gerade aufzubauen versuche, wenn mir am Ende des Tages ein 60-jähriger Mann, den ich heute zum ersten Mal gesehen habe, sagen kann, dass er mir keine zweite Runde Therapie oder ein neues Rezept für meine ADHS-Medikamente verschreiben will? Der sagt, die Dosis, die ich habe, die sich bewährt hat, die ich mit einem Psychiater gemeinsam ausprobiert und eingestellt habe, sei nicht gut für mich. Der mir mit einem fehlplazierten Grinsen während der Sprechstunde kopfschüttelnd erklärt: «Heute gehen ja alle in Therapie und nehmen Medikamente. Ich finde das nicht so gut.» Noch nie fühlte ich mich so wenig ernstgenommen in einer Arztpraxis, ich trauere meinem alten Hausarzt hinterher. Und mir graut es vor dem bürokratischen Aufwand, den ich nun betreiben muss, um eine neue Praxis, eine neue medizinische Ansprechperson zu finden, bei der ich mich aufgehoben fühle. Das Semester beginnt in eineinhalb Wochen. Und in derselben Woche muss ich nun ein zweites Mal bei diesem Typen antraben, um eine Verordnung betteln, die mir eigentlich zusteht. Physiotherapie wollte er mir ebenfalls nicht verschreiben. Weil das den Heilungsprozess meines Fusses anscheinend nicht beschleunigt und Muskeln stärken sei überbewertet, das passiere automatisch. Heute habe ich zum ersten Mal vor einem fremden Mann geweint, fühlte mich gedemütigt. Ugh. Ich habe danach mit meinem Bruder telefoniert, habe ihn überfordert, weil ich sofort wieder zu weinen begonnen habe. Aber er hat mich abgelenkt mit Gesprächen über das eben geschlossene Transferfenster im Fussball. Über seine neue Schule, unseren Vater, Dinge, die in seinem Alltag passiert sind, die leichter sind als mein heutiger Nachmittag es war. Er beendete das Telefonat mit einem Lachen, meinte: «Du weinst immer gleich wegen allem, vielleicht solltest du mal in Therapie.» Als ich nicht reagierte, lachte er erneut, fügte hinzu: «Sorry, das war too soon» und lachte weiter, bis ich auch lachen musste. Das hat geholfen. Er weiss meistens schon, was er sagen muss, auch wenn er sagt, er sei überfordert mit meiner Masse an Emotionen. Jetzt habe ich gerade fünf Minuten lang das oben erwähnte Visionboard angestarrt, die Gesichter von allen wichtigen Menschen, mich daran erinnert, dass da ganz viele gute Sachen sind. Das hat auch geholfen. Wütend bin ich trotzdem immer noch.

 

Dienstag, 9. September 2025

So, das war ein bisschen ein abrupter Einstieg, lol. Ich musste letzte Woche meinen Gefühlen etwas Luft machen. Ich habe mich wieder beruhigt (schon am nächsten Tag, zum Glück), meine Therapeutin regelt für mich, es ist alles wieder in Ordnung. Ich habe die Dinge, die ich machen konnte, gemacht, habe so wenigstens das Gefühl von Kontrolle bekommen. Mein Zimmer habe ich aufgeräumt, all meinen Scheiss auf dem Estrich hab ich durchgesehen und aussortiert, die Küche wurde auch wieder einmal geputzt. Gerade steht aber noch so viel Zeugs in meiner Wohnung, dass ich entsorgen oder in die Brocki bringen oder sonst wo abgeben muss, dass es gar nicht mal so aufgeräumt aussieht. Hat trotzdem geholfen, auch in mir drin ein bisschen zu sortieren, daher verbuche ich das alles als Erfolg. Ja, letzte Woche war nicht so einfach. Ich habe zig Bewerbungen geschrieben, fand Motten in meinen selbstgestrickten Wollpullovern (unser Gefrierschrank ist jetzt voll mit Pullis), hatte diesen ranzigen Arzttermin, es regnete und ich musste zügeln helfen. Ich hasse zügeln, Vera. Naja, es war dann doch sehr okay, weil Zügeln für Leute, die man gern hat, macht man ja dann trotzdem gerne. Sogar wenn sie in eine Wohnung im dritten Stock ziehen. Aber das ganze Konzept mag ich schon überhaupt nicht.

 

Meine Algorithmen auf allen Plattformen werden gerade wieder geflutet von Selbstverbesserungs-Videos. Es ist diese Zeit vom Jahr. 75 Hard oder Winter Arc oder The Great Lock-in 2025 oder was auch immer. Vielleicht ist es, weil das Semester neu beginnt oder weil das letzte Drittel des Jahres nun neu angefangen hat, aber weil alle gerade irgendwie in diesem Modus sind, habe ich mir meine Vorsätze fürs 2025 noch einmal angeschaut als kleiner Check In. Es war ernüchternd, sag ich dir. Aber ich teile sie hier noch einmal, vielleicht mach ich gewisse Dinge so eher. Ich habe sie in drei Listen aufgeteilt und ohne abzuändern aus dem Januar-Brief kopiert:

 

Schon gemacht:

  1. Therapie.

  2. Mehr Fotos machen.

  3. Meine momentan nicht vorhandenen Make-Up Skills verbessern.

  4. Wieder mehr Tagebuch schreiben.

  5. Generell wieder mehr schreiben.

  6. Mehr selbst kochen und weniger auswärts essen.

  7. Nach Hause kommen, wenn es schon wieder hell wird.

 

Noch nicht gemacht:

  1. 80 Bücher lesen.

  2. Eines meiner Bücher fertigschreiben.

  3. Zwei französische Bücher lesen.

  4. Wieder mehr Energie und Motivation für die Uni aufbringen.

  5. Einen (Neben-)Job finden, der mir Spass macht.

  6. Mein Norwegisch und/oder Schwedisch wieder etwas aufbessern.

  7. Ein norwegisches oder schwedisches Buch lesen.

  8. Meine Masterarbeit anfangen.

  9. Drei Wanderungen machen.

  10. Zehn Filme im Kino sehen.

  11. Zwei Klimmzüge schaffen.

  12. Nur noch an Partys und in den Ferien rauchen.

  13. Ein ganzes Notizbuch füllen.

  14. Weniger Bildschirmzeit.


Aufgegeben:

  1. Mein Französisch wieder aufbessern (vielleicht in einem dieser Uni-Kurse?).

  2. Allein in die Ferien fahren (ich mag den Skandi-Sommer schon sehr, daher habe ich eine Vision von mir in Kopenhagen im Juli im Kopf. Wäre schon schön).

  3. Mit euch nach Italien fahren.

  4. Etwas Geld zur Seite legen.

 

Hey, immerhin sieben Punkte schon abgehackt und nur vier aufgegeben. Was noch nicht ist, kann noch kommen, mal schauen, wie es in vier Monaten um diese 14 Punkte auf der «noch nicht gemacht» Liste steht. Wir werden sehen.

 

Hier zum Abschluss dieses etwas wirren Briefes noch meine Kategorien.

 

Etwas zum Hören: «So guet wie nie» von Lo und Leduc. Sie sind nicht umsonst jedes Jahr in meinen Top 5 auf Spotify.

 

Etwas zum Glotzen: Ganz bizli gecheated, denn es ist ein Podcast. Aber ich schaue ihn meistens auf YouTube, damit ich die Grafiken sehen kann, von denen sie sprechen. Der Fussballpodcast «Pitch Side» zur Premier League und generell englischem Fussball. Sehr witzig und gut, um jede Woche ein bisschen Übersicht zu bekommen.

 

Etwas zum Lesen: Ich lese immer noch nicht viel gerade. Aber als Unilektüre zur Vorbereitung lese ich gerade die Odyssee von Homer. Die englische Übersetzung von E. V. Rieu von 1946. Sehr dicht, sehr kompliziert mit all den Namen (die ich wenigstens zum Glück schon so halb im Kopf habe vom Latiunterricht im Gymi), aber trotzdem halt auch gut. Ich mag die Griechen, du weisst. Aber für 15 Seiten brauche ich ca. 1 Stunde, wenn ich richtig aufmerksam lese. Es ist also schon ziemlich harzig.

 

Etwas zum Essen: Wir waren in der IKEA letzte Woche, daher die Köttbullar, die jetzt in unserem WG-Gefrierschrank verstaut sind (neben meinen Wollpullis, lol).

 

Ausdruck der Woche: Hüllenklaue. Das ist die Pflanze, die ich mir letzte Woche für mein Zimmer gekauft habe. Sie hat pinke Sprenkel auf ihren Blättern, wie toll ist das denn bitte!!!

 

So, ich bin wieder ready für die Uni. Famous last words. Das sage ich meistens zu Beginn des Semesters und zwei Wochen später sieht es wieder ganz anders aus. Aber gerade fühle ich mich bereit und daran halte ich mich für den Moment fest. Ich freue mich wieder auf die Routine des Studiums.

 

Han di gern und heb der Sorg!

 

Alles Liebe

Michelle



 

Das ist die herzige Pflanze! Es sieht zwar weiss aus auf dem Foto, aber es ist rosa, trust <3
Das ist die herzige Pflanze! Es sieht zwar weiss aus auf dem Foto, aber es ist rosa, trust <3

 

 

 

 

 
 
 

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