Liebe Vera
- Michelle Harnisch
- 12. Nov.
- 5 Min. Lesezeit
Ich lege gleich nach, weil wir sowieso nicht mehr im Zeitplan sind und ich letzte Woche schon geschrieben haben. Ignorieren wir das. Du sagst zurecht, dass wir monologisieren in diesen Briefen. Ich bin ziemlich schlecht darin, anständige Antworten zu schreiben. Habe meistens zu viel, das ich einfach loswerden will und dann vergesse ich dich als Gegenüber etwas. Vielleicht können wir das aber ja üben, wenn du nächstes Jahr fünf Monate weg bist. Dann müssen wir ja Konversationen führen! Bei mir ist es gerade auch etwas langweilig. Der November ist spürbar. Ich habe Leute auf Insta, die den November als ihren Lieblingsmonat bezeichnen und das ist mir wirklich ein Rätsel. November ist eigentlich wie Februar. So ein Zwischenmonat, in dem ich irgendwie immer nur darauf warte, dass etwas passiert und wieder bessere Tage kommen (Weihnachten oder der Frühling). Ich fand deinen Brief nicht ganz so wirr, wie du ihn dargestellt hast, aber du hast recht: ich habe im Literaturstudium gelernt, mit Wirrheit umzugehen. Gerade habe ich ein Seminar über "Ulysses" von James Joyce, das ist eigentlich ein Paradebeispiel. Auch wenn die Dozentin immer wieder sagt, dass es gar nicht so chaotisch ist, wenn man erst mal drin ist. Ich bin in der Mitte und finde es immer noch wirr, aber vielleicht löst sich das ja im letzten Kapitel oder so. Und dann muss ich natürlich noch deponieren, dass ich deinen Freund*innenschaftstext sehr schön fand. Überhaupt nicht cringe. Vielleicht etwas kitschig. Aber ich liebe kitschige Texte ja bekanntlich! Darum haben auch diese Diogenes Bücher, die eigentlich Jugendbücher sind, aber nie als solche vermarktet werden, einen Softspot in meinem Herzlein. Ich war jedenfalls sehr gerührt. Und hab natürlich versucht herauszufinden, wer welche Freund*innen sind. Du hast ausserdem aufgezählt, was du so gelernt hast. Wichtig, das Augenmerk immer wieder darauf zu legen, finde ich. Deshalb knüpfe ich gleich da an.
Ich lerne immer wieder Dinge. Aber manchmal sind es Sachen, die ich lieber nicht über mich gewusst hätte. In den letzten zwei Wochen habe ich ziemlich viele neue Dinge gelernt. Das Wichtigste ist, dass Ballermannmusik gegen Panikattacken hilft. Wie peinlich ist das denn bitte? Naja, ich nehme, was ich kriege. Strategie ist Strategie, egal wie peinlich. Ich empfehle es nicht. Also die Mucke schon, ich hab dir die Playlist geschickt. Die Panikattacken, meine ich. In der Uni auf dem All Gender Klo in einen kleinen, blauen Plastiksack, der für gebrauchte Tampons gedacht ist, zu atmen, ist nicht so das. Wirklich sogar ziemlich scheisse. Ich will das nicht kleinreden. Ich hatte meine erste Panikattacke, weil mein Kopf sich wieder mal in Dinge hineingesteigert hat, weil kurz alles ganz schön viel war. Das Gefühl, nicht mehr atmen zu können, ist echt beängstigend und hat mich verunsichert. Die Tage danach hatte ich ständig Angst, dass es nochmals passiert. In einer Vorlesung oder im Training oder am FCB-Match oder so. Aber meine Therapeutin hatte zwei Tage später noch einen freien Termin. Ausserdem war ich ausgiebig spazieren mit dir, habe mit meinen Herzensmenschen darüber gesprochen und fühlte mich sehr gut aufgehoben. Und das ist eigentlich ein viel wichtigeres Gefühl.
Ich konnte mir das nie so richtig vorstellen. Im Jahr nachdem mein Grossvater starb, war ich mit euch und meinem Bruder im Sommerlager. Meinen Bruder nahm dieser Tod mit fast einem Jahr Verspätung sehr mit. Er hatte einige „Ich kann nicht atmen“ Momente. Mit 14 fand ich das anstrengend, weil ich dann immer gerufen wurde, um ihn zu beruhigen. „Dein Bruder weint schon wieder“, hiess es einige Male. Ich tröstete ihn zwar, verdrehte aber auch genervt die Augen, bevor ich zu ihm ging. Jetzt, fast 12 Jahre später kann ich das plötzlich etwas besser nachvollziehen, und fühle mich ein bisschen schlecht. Aber nur ein bisschen. Wenn ich mich für alles schlecht fühlen würde, was ich mit 14 gedacht, gesagt, getan habe, dann käme ich aus den Schuldgefühlen gar nicht mehr raus. Jetzt fühlt es sich bloss etwas komisch an, wenn ich meinen Bruder in solchen Momenten anrufe. Ich versuche zu doll, im grosse Schwester Modus zu bleiben, vergesse manchmal, dass auch er eine erwachsene Person ist, und ich nicht mehr auf ihn aufpassen muss. Diese Dynamiken loszuwerden ist schwierig. Sie so auf den Kopf zu stellen, wenn ich plötzlich nicht mehr atmen kann, irgendwie desorientierend. Auch das grosse Schwester sein lerne ich also immer wieder ein bisschen neu, merke ich.
Weitere Dinge, die ich gelernt habe:
Hands im Fussball gilt schon ab Oberarm. Ich dachte immer es ist ab Ellbogen abwärts.
Es gibt doch ganz, ganz wenige Autos, die sogar ich als Auto-Banausin ziemlich cool finde. Am Freitag habe ich einen pinken Lamborghini gesehen.
P. und ich sind gar nicht so schlecht in Vorträgen – auch auf Masterstufe. James Joyce kann uns gar nichts, sag ich dir!
Wer der Marlboro Mann ist.
KI reproduziert problematische Denkmuster, die in der Sprache bereits vorhanden sind und gewisse sprachliche Verankerungen passieren nun enorm beschleunigt/verankern sich noch tiefer, weil alle mit ChatGPT Texte schreiben. Bspw. diese Bias: «nurse» ist eine Frau und «doctor» ist ein Mann. Ich hab mich etwas tiefer eingelesen, will dich aber nicht allzu sehr langweilen. Höchst problematisch alles! Hat meinen KI-Hate noch einmal verstärkt.
Einfache Dinge wie Aufräumen oder Vorkochen oder staubsaugen sind noch schwieriger, wenn es so früh dunkel wird.
Prinzipien sind gut, aber manchmal muss man sie etwas ignorieren. Im Deutschen einkaufen ist zwar ranzig und ich habe mich bisher dagegen gesträubt, aber mein Budget macht gerade die Regeln.
Haare flechten! Konnte ich schon, aber jetzt kann ich noch eine andere Variante, die besser hält. Gamechanger. Leider bin ich etwas verwirrt mit den Terminologien. Bis jetzt habe ich immer den «Dutch Braid» gemacht, jetzt französisch, glaube ich.
Mit dir ins Gym pusht mich mega! Gestern haben wir heftig gebencht und gecurlt und der Muskelkater gerade fühlt sich sehr geil an.
Handball hilft gegen fast alles (ausser mein Knie, das ständig Faxen macht oder meine Bänder am Fuss, die ich immer noch manchmal spüre, lol). Wusste ich zwar schon, aber manchmal braucht man etwas Bestätigung bei solchen Sachen.
Meine Joggingschuhe sind scheisse. Sie sind alt und abgelatscht und als ich letzte Woche joggen war, habe ich mir vier (vier!!!) Blasen geholt.
Jetzt noch zu den Kategorien:
Etwas zum Essen: Beggeschmutz! D Mäss isch zwar verbii, aber für die Liste für nächstes Jahr, falls es wer verpasst hat.
Etwas zum Glotzen: Ganz viele TikToks und Reels mit gebastelten Weihnachtsgeschenksideen. Ich habe bereits eine Liste und habe mit einigen Geschenken schon angefangen. Lass das Basteln beginnen!
Etwas zum Lesen: Etwas spät, aber ich mochte den «Is having a boyfriend embarrassing now?» Artikel von Chanté Joseph in der Vogue sehr. Er ging ein bisschen viral, die Autorin bekam ziemlich viel Hate, aber ich finde sie hat einige gute Ansätze. Den Kommentar «Warum Frauen ihre Beziehung auf Social Media verstecken» von Miriam Suter dazu in der Annabelle hänge ich auch noch gleich an.
Etwas zum Hören: Das neue Florence + the Machine Album «Everybody Scream». Mag ich gerade sehr.
Ausdruck der Woche: Als Hommage an P.s und meinen Vortrag, der jetzt (endlich) vorbei ist (und auch ein bisschen für Joyce): «Imperthnthn thnthnthn».
So, das war’s. Es ist der 10. November 2025 und ich freue mich gerade enorm auf meinen Geburtstag! Ich wollte mich zusammenreissen und nichts davon im Brief schreiben, aber ich schaffe es nicht. Diese Woche wurde die Bar für unser Fest reserviert, die
wichtigsten Leute sind bereits eingeladen. Das hat die Vorfreude enorm angekurbelt. Bald schon werde ich 26. Nicht einmal mehr ein Monat! Hype, hype hype!
Heb der Sorg und alles Liebe,
Michelle




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