Liebe Vera
- Michelle Harnisch
- 26. Nov.
- 8 Min. Lesezeit
Ich habe dich letzte Woche so gestresst und jetzt bin ich selbst zu spät. Krass, wie wir diesen Zeitplan mittlerweile wirklich über den Haufen geworfen haben. Aber wir sind jetzt wieder schön bei einer Woche Abstand. Immerhin. Eigentlich habe ich schon vorher zu schreiben begonnen. Am Sonntag habe ich folgendes geschrieben:
Es ist Sonntagabend, es ist so kalt, dass es sich anfühlt, als hätte es Schnee, wenn ich auf den Balkon trete, es riecht sogar nach Schnee, obwohl es keinen hat, und das ist unser 100. Brief! Was für eine Ehre, dass ich den schreiben darf. Aus gegebenem Anlass habe ich meine zwei liebsten Abschnitte aus unseren beiden ersten Briefen herausgesucht.
Du: Ich habe mich entschieden, auf der welligen Seite baden zu gehen. Als ich da so in den Wellen herumhüpfte und mich reinschmiss, überkam mich plötzlich eine grosse kindliche Freude am Wasser. Die unbändigen Wellen beeindruckten mich, dieses Spiel zwischen Macht und Unterwerfung mit der grossen Masse des Ozeans. Ich lachte und hüpfte und jauchzte.
Ich: Du weisst, wie sehr ich Vorfreude mag. Darum montiere ich jetzt schon meine Schwimmbrille, lasse mich rückwärts in diese Vorfreude fallen, wie in einen tiefen Pool und versuche, die Luft so lange wie möglich anzuhalten.
Auch wenn man es in diesen Ausschnitten nicht gleich sieht, ist mir doch etwas aufgefallen. Diese ersten paar Briefe waren so ungehemmt, Vera, so verletzlich auch irgendwie. Obwohl wir von Anfang an gesagt haben, dass wir sie posten wollen, fühlte es sich damals noch nicht so an. Erst als wir den Blog live schalteten (so nach ca. 3 Monaten schreiben), spürten wir das glaubs beide. Wir waren so mutig in diesen ersten paar Texten. Auch etwas naiv, finde ich. Denn auch wenn unsere durchschnittliche Leser*innenzahl heute nur so bei 40 Leuten ist, ist es doch ein anderes Gefühl, diese Briefe jetzt zu schreiben. Zuerst wollte ich mutig sein und wieder einmal oversharen wie früher, entscheide mich jetzt aber dagegen (so halb jedenfalls). Schliesslich schulden wir niemandem was. Trotzdem baue ich ein paar Bausteine ein, die zum Teil seit fast einem Jahr in meiner Notizenapp leben, die es nie bis hierhin geschafft haben. Sätze, die ich mag, obwohl ich mich mit ihnen teilweise verwundbar mache. Aber der zeitliche Abstand dazu hilft.
Februar 2025: «Ich freue mich auf all die Dinge, die wir noch zusammen unternehmen werden. Nicht grosse, biedere Dinge wie zusammenziehen oder Kinder (auf das freue ich mich natürlich manchmal auch, aber nicht so oft). Ich meine die kleineren Dinge. Wir tanzen auf einer Hochzeit unserer Freund*innen. Wir richten unsere erste Wohnung ein. Wir fahren zusammen in die Ferien.» Das habe ich vor zwei Jahren noch geschrieben. Jetzt nach der Trennung suche ich nach einem Sinn in diesen Worten. Ich suche Sinn in vielen Sachen. Mit ihm habe ich zum ersten Mal Austern gegessen. Hat das nichts zu bedeuten? In diesen fünf Jahren habe ich vier Mal auf einen Schwangerschaftstest gepinkelt, einmal die Pille danach genommen. Ich habe Familienangehörige kennengelernt, gern bekommen. Ich habe mich anvertraut und mich auf U-Boot Dokus eingelassen. Hat das nichts zu bedeuten? Natürlich hat das alles sehr viel zu bedeuten. Ich darf das nicht einfach abwerten. Will ich auch nicht. Aber gerade ist es ein bisschen einfacher so. Wenn ich vergesse, wie gut mein Kopf in die Kuhle seiner Schulter gepasst hat.
August 2025: Manchmal sind diese Freundinnenschaften trotz all der bereits geteilten Nähe immer noch überfordernd. Sie kennt mich besser als viele andere Leute, besser vermutlich als meine Eltern zum Beispiel. Trotzdem halte ich ihr das zerlesene Buch hin. Hoffe, dass sie die verschiedenen Leuchtstiftfarben bemerkt, die mit Kugelschreiber unterstrichenen Zeilen, die Seiten, die sich gelöst haben, weil die billige Klebebindung bereits zerbröckelt, die ich mit durchsichtigem Klebeband wieder angeklebt habe. Das bin ich, will ich sagen. Diese kaputte Klebebindung, diese angestrichenen Sätze, diese Worte bedeuten mir in den richtigen Momenten vielleicht mehr als alles andere. Das bin ich, schreie ich innerlich. Sie versteht. Glaube ich zumindest.
März 2025: Meine Therapeutin fragt mich, ob ich schon einmal eine solche «depressive Zwischenverstimmung» hatte (so nennt sie es meistens, manchmal auch «depressive Phase»). Ich verneine. Erinnere mich erst nach der Sitzung an diese paar Monate anfangs Gymnasium vor fast zehn Jahren. Ich erinnere mich an die schwierigen Tage. Wenn ich abends mit meinem angemalten Velo den Hügel im Dorf rauffuhr. Oben auf die Lichter hinunterblickte, weinte, ganz allein. Und dann mit vollem Tempo den Hügel hinunterbretterte, weil die Gedanken so für einen kurzen Moment innehielten. Ich innehielt. Da nur die Angst war und die Sicherheit, dass ich nicht bremsen kann, wenn jetzt ein Auto um die Ecke kommt. Hier fuhren nie Autos. Bestimmt nicht um diese Zeit. Aber die minime Chance bestand und die kurze Panik, die in mir aufflammte, verdrängte meine Sorgen, meine Ängste. Ich griff den Lenker, stellte die Musik noch lauter ein und trat in die Pedale, obwohl ich die Maximalgeschwindigkeit schon erreicht hatte.
Juli 2025: Wir feiern den Geburtstag meiner Grossmutter. Sie freut sich, das weiss ich, obwohl sie still ist und lieber den Gesprächen meiner Cousins, meines Bruders und mir lauscht. Mein Gotti erzählt Geschichten von ihren Campingplatz-Ferien. Sie haben einen Wohnwagen im Wallis. Ihre Nachbarn gegenüber sind pensioniert und trinken den ganzen Tag Wein. Chillen vor ihrem Wohnwagen auf Klappstühlen, trinken Wein und verbringen ihre Tage zusammen. Mein Gotti schaut zu meiner Grossmutter, als sie sagt: «I ha immer ds Gfüuh, ds wäred Päpu u du gsi.» Obwohl ich schon lange nicht mehr weinen muss, wenn ich an meinen Grossvater denke, der gestorben ist, als ich noch in der Primarschule war, wallen in meinen Augen Tränen auf, die ich schnell wegwische. Wenn ich PMSe und an diesen Satz denke, beginne ich manchmal zu weinen.
Das lasse ich so stehen. Diese Texte haben alle eine Schwere in ihnen, die ich gerade gar nicht mehr spüre. Denn in einer Woche habe ich Geburtstag, Vera! In weniger als einer Woche sogar! Ich habe mir am Dienstag freigenommen, obwohl das finanziell eigentlich nicht die beste Entscheidung war. In die Vorlesung am Nachmittag gehe ich auch nicht, habe ich entschieden. Mein ganzer Tag ist durchgeplant. Zmorge mit L. und dir, Zmittag mit L. und P., Kaffee mit Mama, abends Bier und Fussball mit allen anderen (Newcastle spielt an meinem Geburtstag, wie toll ist das denn bitte?). Ich freue mich ungemein. Obwohl dieses Jahr aus verschiedensten Gründen wirklich nicht das einfachste war, werde ich immer noch sehr gerne älter. Mein Bruder lacht mich aus, weil ich seit September sage, ich sei schon 26. «Ke angere Mönsch macht sech extra äuter, usser 17-Jährigi, wo i Klub inewei», meint er.
Doch eigentlich versteht er. Denn auch er liebt Geburtstage. Bei uns wurden die schon immer gross gefeiert. Klassisch mit Znacht wünschen und Geschenken, Kinderpartys mit dem Schoggispiel und Büchsenschiessen, Schnitzeljagd und Bravo Hits auf voller Lautstärke. Auch unsere Stieffamilie zelebriert Geburtstage sehr krass. Eines der ersten Familienfeste, bei dem mein Bruder und ich dabei waren (Primaralter noch), war der 60. Geburtstag unserer Stiefgrossmutter. Die Party dauerte bis um 3 Uhr morgens, es gab eine Polonaise (als Kind fand ich das noch geil, jetzt finde ich: jede Party ist vorbei, sobald es eine Polonaise gibt), wir spielten in einer Ecke Nintendo mit den noch neuen Stiefebrüdern und Stiefcous*innen, wir durften mega lange aufbleiben. Diese Stieffamilie ist auch die einzige Gruppe, die es je geschafft hat, mir eine Überraschungsparty zu organisieren. Da ich selbst innerlich immer schon ein halbes Jahr vorher mit der Partyplanung beginne, gebe ich sonst niemandem die Chance dazu lol. Aber damals, an meinem 12. oder 13. Geburtstag (ich bin mir nicht mehr sicher), überraschten sie mich mit einem Znacht bei Papa zuhause. Ich dachte, es seien bloss Papa, P. und meine Brüder, doch alle anderen aus unserer grossen Patchworkfamilie sassen auch im Raum und schrien auf, als ich die Treppe in unsere Stube hochkam. Sie schenkten mir diese IKEA-Lampe, die aussieht wie eine Pusteblume, wir assen Raclette und Tischgrill und stopften uns voll mit Kuchen, Wiehnachtsgutzi und dem Speckzopf in Zahlenform (alles gebacken von der Stiefgrossmutter).
Eine neue Ära begann dann natürlich, als wir begannen, uns zusammenzulegen mit dem Feiern (und als Alkohol ins Spiel kam, natürlich). E., L., M. und ich haben alle innerhalb von zweieinhalb Wochen Geburtstag und hatten lange den gleichen Freund*innenkreis. Das weisst du natürlich, denn du warst bei jeder Party dabei. Wir verbündeten uns dann auch noch mit C. und F., feierten zu sechst. Zu sechst kann man sich noch besser hineinsteigern. Das ist noch viel ansteckender, wirklich. Ich meine, L. und du habt uns auf den 18. Geburtstag eine Band organisiert! Die ihr ganzes Equipment in C. und F.s Wohnzimmer aufbaute und ein richtiges Konzert spielte! Wie wild ist das denn?
Wie du merkst, ich habe viele gute Erinnerungen an Geburtstage. Ich werde jedes Jahr von gewissen Leuten vorgewarnt, dass ich mir nicht zu hohe Erwartungen stecken soll, weil ich sonst nur enttäuscht werde. Das hat sich noch nie bewahrheitet. Ich bin immer happy. Ich freue mich immer wieder aufs Neue. Und obwohl mir auch schon vorgeworfen wurde, etwas narzisstisch (diesen Vorwurf finde ich crazy) oder kindisch zu sein, kann ich gut damit leben. Diese kindliche (Vor-)Freude fehlt uns allen, sind wir ehrlich. Ich schätze mich glücklich, kann ich sie wenigstens einmal im Jahr wieder so richtig aufflackern lassen und ausleben. Ich freue mich also sehr auf nächsten Dienstag!
Bevor ich abschliesse, noch die Kategorien:
Etwas zum Glotzen: Ich war seit Ewigkeiten wieder einmal im Kino. M. arbeitet dort und kann gratis wen mitnehmen, Ehrenfrau. Wir haben uns «Bugonia» angesehen, aber ich bin immer noch nicht sicher, ob ich ihn richtig gut oder richtig schlecht finde. Er war viel blutiger und stressiger, als wir beide erwarteten, der Schluss ist wild (und der Hauptgrund, warum ich mich nicht entscheiden kann, ob ich ihn gut oder schlecht finde). Aber ich habe sonst nicht wirklich was geschaut, darum empfehle ich ihn trotzdem. Aber mit Vorwarnung, dass man viel Blut und anderes sieht.
Etwas zum Hören: «All die schönen Worte» von Kraftklub und Faber. Was für eine Kombo! Besser geht vielleicht gar nicht. Das Album kommt am Freitag und ich bin hype. https://www.youtube.com/watch?v=ETVURQYiwtY
Etwas zum Essen: Ich habe Polenta wieder etwas für mich entdeckt. Banger, sorry. Ist sau schnell gekocht, scheppert und man kann Polenta-Fries aus den Resten machen.
Etwas zum Lesen: «Cue The Sun! The Invention of Reality Television» von Emily Nussbaum. Ein Sachbuch über Reality TV und seine Entstehung. Angefangen bei Call-In-Radio-Sendungen aus den 40er-Jahren spannt Nussbaum den Bogen bis anfangs 2000er, als der grosse Boom kam mit Big Brother, The Bachelor, Survivor, etc. Ich bin fast fertig (habe noch so 80 Seiten) und finde es so spannend. Da ich jemand bin, die Real Housewives als ihr persönliches Laster definiert, bin ich sehr gespannt auf das «BRAVO and the Real Housewives Empire» Kapitel, das als nächstes kommt. Wirklich ein mega interessantes Buch, das zwar die (vielen, vielen) Schattenseiten und problematischen Aspekte der Branche beleuchtet, aber trotzdem auch positive Dinge hervorhebt, die Emotionalität und die Anziehungskraft des Genres ernst nimmt. Wirklich unglaublich grosse Empfehlung!
Ausdruck der Woche: Geburtstagsvorfreude.
So, wieder mal ein Durcheinander aus meinem Kopf. Ein paar Sachen, über die ich auch noch schreiben wollte, hab ich jetzt vergessen. Zum Beispiel, dass ich ziemlich im Weihnachtsfilm bin und schon vier Sorten Gutzi gebacken habe. Oder dass Newcastle am Samstag gegen Manchester City gewonnen hat (!!!) und dann gestern in der Champions League gegen Marseille verloren hat. Auch den ernüchternden Handballmatch vom Sonntag, den wir haushoch verloren haben, klammere ich aus. Vielleicht dazu nächstes Mal mehr. Ich hoffe, du verzeihst mir die fehlenden Übergänge. Meine Profs würden wohl aufschreien oder zumindest rot markieren. Aber zum Glück sind hier keine Korrekturstifte erlaubt. Gib dir Sorg, Vera! Ihr alle, die das lest, auch!
Alles Liebe,
Michelle




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