Extrapost aus Mumbai
- Vera Rieger
- 8. Feb. 2024
- 9 Min. Lesezeit
Liebe Michelle
Ich sitze gerade an einem Bahnhof etwas ausserhalb von Mumbai nebem meinem Taxichauffer (um nicht zu sagen driver, was vielleicht akkurater wäre, aber zu posh klingt). Von hier aus werde ich einen Nachtzug nach Goa weiter im Süden nehmen. Es ist jetzt Ende des dritten Tages meiner Reise und ich habe schon viel zu erzählen. Beginnen wir von vorne. Kurze Unterbrechung: Gerade ist ein Mann vorbeigekommen, der Chai verkauft. Das gibt es oft; Männer, die herumgehen und Chai in Espressobechern aus Thermoskannen anbieten. Der Chai ist sehr gut, wenn auch etwas süss. Ist tatsächlich mein erster, ich war sogar noch etwas traurig, diese Möglichkeit in Mumbai verpasst zu haben. Der driver hat gerade seinen Becher aufs Gleis geworfen, soll ich das auch machen?
Okay, weiter im Text, bzw. let's start. Ich hatte einen Flug ab Zürich mit 4 Stunden Aufenthalt in Istanbul. Davon gibt es nichts Spannendes zu erzählen, ausser dass das zweite Flugzeug LED's als Sterne an der Decke hatte und es beide Male gutes Essen gab (türkisch & griechisch). Ich habe auch gemerkt, dass ich mir Fliegen (vor allem ausserhalb Europas) und alles drumherum überhaupt nicht gewohnt bin. Authentical Gen-Z halt. Ehrlich gesagt war ich schon froh, dass ein Freund mich Nervenbündel in Zürich an den Flughafen begleitet hatte.
In Mumbai kam ich um 5 Uhr morgens an. Dort hat mich der driver (tatsächlich der gleiche wie jetzt) abgeholt und zum Hotel gebracht. Ich habe mir den ersten Teil meiner Reise planen lassen, besonders die Transporte und Unterkünfte. Ich bin froh darüber, da Südindien keine Backpacker - Gegend ist und ich glaub ziemlich lost gewesen wäre. (Und gewisse Regionen nicht hätte erreichen können) Glücklicherweise kann ich an den meisten Tagen aber selbst entscheiden, was ich mache. Diese Verantwortung brauche ich auch.
Im Hotel, das im Westen von Mumbai lag, schlief ich noch 3 Stunden und startete dann mit viel Elan in den Tag, aufgeregt, endlich diese Stadt zu erkunden. Die Rezeptionistin sagte mir, ich solle ein Taxi mit Uber oder Ola nehmen. Das war mir aber zu teuer. (Natürlich ist es nicht wirklich teuer) Deswegen lief ich zum nächsten Bahnhof, den ich auf Maps fand. Die Strassen waren voll mit Autorikschas, Strassenimbissen, Strassenverkäufern, Menschen, verschiedensten Menschen: traditionell oder modern gekleidet. So halb latschte ich über eine Baustelle. Ich habe mich viel informiert über Mumbai; mit dem Reiseführer und übers Internet, aber nirgends stand, dass man sich innerhalb der Stadt mit dem Zug sich fortbewegen kann. Aber best decision ever. Den Ticketschalter fand ich einfach. Auf dem Gleis folgte ich eher zufällig den Frauen und landete im Frauenabteil des Zuges. Es war sehr voll. Jetzt kommt das Klischee: Die Türen sind breit und immer offen, wenn es viele Leute hat, lehnen sie sich heraus. Im Zug war ich die einzig weisse Frau, wie noch an einigen Orten, wo ich war. Aber ich fühlte mich wohl. Irgendwann kam eine Schalverkäuferin vorbei. Unsicher, ob ich einen kaufen sollte, schaute ich immer wieder zu ihr. Die Frau neben mir (inzwischen waren viele ausgestiegen, es hatte Platz und ich sass) kaufte sich einen. Nach einer Weile gab sie mir den kleinen Plastiksack und sagte, es sei ein Geschenk für mich. Sie hätte gemerkt, dass ich einen kaufen wollte. Ich war überwältigt, bedankte mich herzlich, wir sprachen kurz, machten ein Selfie und tauschten Nummern aus.
Später lief ich Richtung Gateway of India, der bekanntesten Sehenswürdigkeit. Dabei überquerte ich ein Cricket-Trainingsfeld und sah viele architektonische Gebäude der victorian era (Briten). Wie man in Mumbai läuft: man läuft. Autos hat es überall und gehupt wird sowieso die ganze Zeit. Deswegen musst du einfach laufen. Macht keinen Unterschied, wenn du angehupt wirst. Es gibt Ampeln für die Autos, aber praktisch keine für Fusgänger:innen. Auf breiten Strassen muss man also selbst einschätzen, wann man vor den 7 nebeneinanderstehenden Autos und 20 Mofas durchlaufen möchte. Es funktioniert aber erstaunlich gut. Ich mochte schon Autofahren in Rom sehr und ich muss sagen, ich mag auch Laufen in Mumbai. Das Gateway of India ist eine riesen Enttäuschung. Vielleicht ist es snobby, dass als Europäerin zu sagen, aber schon alleine, dass es ein Highlight sein soll, wirkt irgendwie wie ein westlicher Gedanke. So als ob nur grosse Architektur sehenswert wäre. Es hat aber viele indische Tourist: innen. Was mich hingegen nicht mehr aus dem Staunen herauskommen liess: die Kleider der Frauen. Mir war nicht bewusst, dass Frauen auch im Alltag so schöne Saris tragen. Von indischen Hochzeiten in Filmen und Ähnlichem kennt man das ja. Saris sind wirklich das schönste Kleidungsstück, dass ich je gesehen habe. Und es gibt sie in allen möglichen Ausführungen. Dann noch der Schmuck dazu, einfach wow. Eigentlich hätte ich gerne Frauen angestarrt und fotografiert, aber das wäre creepy gewesen. Es tragen nicht alle Saris oder traditionelle Kleidung, manche auch businessmässig Hose und Bluse oder Jeans und T-Shirt. Nackte Knie oder Ausschnitt habe ich aber tatsächlich bei keiner indischen Frau gesehen. Es fiel mir aber nicht schwer, auch lange leichte Hosen und eine Bluse zu tragen bei 28 bzw. 30 Grad. Die Hitze machte mir nicht zu schaffen, obwohl ich auch ständig diesen Schal trug. Ich erzähle zu detailliert, so werde ich nicht fertig. Nach der Besichtigung lief ich weiter herum. 3 Mal wurde ich gescamt bzw. gehustlet.
1. Mal. Klassisch: eine Frau band mir ein gedrehtes Armband mit Lotusblüten um "no money, just grace" (Touri-Anfängerin)
2. Ein bettelndes Kind (ich wusste schon im Voraus, dass ich Mühe haben würde mit bettelnden Kindern) brachte mich dazu, ein Kilo Reis für 200 Rupien zu kaufen. (Etwa 2.30 CHF, im Vergleich: ein grösseres Gericht auf der Strasse kostete 75) Das war okay, aber danach folgte mir seine Mutter mit Baby etwa 500 Meter oder mehr durch die Stadt, da sie wollte, dass ich noch Milchpulver kaufe. Dies war sehr unangenehm.
3. Ein Mann mit Badge zeigte auf irgendein Schild und führte mich über den crawfort market, ein alter Markt. Er sagte, es sei obligatorisch oder so. Da musste ich Trinkgeld geben.
Auf dem crawfort market wurde ich auch über den Tiermarkt geführt. Die Grausamkeit dieses Geschäfts war mir zum Glück in diesem Moment nicht bewusst, da ich dermassen im Film war. Ich hatte keine Zeit für Mitgefühl, aber rückblickend wird mir schlecht beim Gedanke daran.
Danach irrte ich im wimmelnden Bazar herum. Aufgrund der Menge an Dingen, kam es mir gar nicht in den Sinn, etwas zu kaufen. Ich begann, Hunger zu haben und suchte ein Restaurant, um einzukeRestaurants, das auf google angezeigte fand ich nicht. Deswegen entschied ich mich, an einem der unzähligen Essensständen am Strassenrand zu essen. Man isst direkt neben dem Stand im Stehen. Hinter dem Koch, der alles in einem grossen Topf auf dem Feuer frisch zubereitet, sitzen andere Männer, die Tomaten und Zwiebeln schneiden. Der ganze Kochprozess kann live mitverfolgt werden. Ich nahm die beliebteste Bude - (Reiseführertipp, man kennt's) und bekam eine grosse Portion.
Danach lief ich zum marine drive, einer Fussgängerzone am Meer, um etwas zu chillen und fuhr mit dem Zug wieder in den Westen zurück. Im Hotel hatte ich weniger Zeit zum Entspannen als gedacht, da ich abends noch einen Tempel besuchen wollte.
Diesmal nahm ich eine Autorikscha über Uber. Auch da wurde ich unzählige Male darauf hingewiesen, gut aufzupassen. Aber ich fühlte mich überhaupt nicht unsicher. Die Rikscha ist offen und es hat so viel Verkehr, dass sie mehrheitlich stand, anstatt zu fahren. Sehr einfacher Fluchtweg also.
Beim Tempel angekommen zog ich meine Schuhe aus. Natürlich merkte ich erst danach, dass ich auf Toilette musste. Den Tempelbesuch wollte ich ohne Druck auf der Blase geniessen. Plumpsklo barfuss ist wohl Indien pur. Im Krishna-Tempel tanzten die Männer auf der einen und die Frauen auf der anderen Seite, die Stimmung ist sehr ausgelassen. Ich hielt mich im Hintergrund und sang diskret mit. Da passierte es. Plötzlich kamen Menschen und wollten Fotos mit mir machen. Das war eine sehr spezielle Erfahrung, da es mir verkehrt herum schien. Ich war da, um ihre Kultur, Kleidung und Religion zu erfahren und bewundern. Deswegen fragte ich dann stets, ob ich auch ein Bild für mich machen dürfe. Aber immerhin konnte ich mich einmal im Leben wie eine Hindu-Göttin fühlen ;) Ansonsten hielt ich mich zurück mit Fotografieren, da es verboten war. (Woran sich niemand hielt) Draussen erklärte mir eine junge Mumbaierin das Essen, lud mich ein und gab mir Reisetipps.
Zurück beim Hotel war ich immer noch sehr gehypt und machte noch eine Runde um den Block. Obwohl ich noch nie an einem Ort so offensichtlich die Touristin war, fühlte ich mich auch noch nie so stark ins lokale Alltagsleben integriert. Die vielen Leute auf der Strasse gaben mir ein sicheres Gefühl. Ich glaube, es kam auch davon, dass ich damit gerechnet hatte, nach Einbruch der Dunkelheit stets im Hotel rumzusitzen. Zudem hatte ich das Gefühl, dass es weniger Ghettoisierung gibt als in europäischen Städten, überall war alles voll und gemischt, aber vielleicht erkannte ich sie nicht.
In dieser Nacht schlief ich wunderbar, am nächten Morgen konnte ich nach dem Aufwachen noch einmal Einschlafen und sogar wieder einmal träumen. Der Rummel um mich herum scheint mir innere Gelassenheit zu bringen.
Der zweite Tag war sehr anders. Ein Freund von meinem Tourplaner führte mich herum. Ich sah Business-Mumbai, bekam ein Gefühl für Klasse/Kaste und mir wurde bewusst, dass mein erstes Alle-sind-auf-der-Strasse-happy-life-Gefühl sehr naiv war. Wir assen in einem schicken Restaurant. Es gibt nur männliche Kellner. Auf meine Nachfrage, ob es zum Teil auch Frauen gäbe, die diesen Beruf ausüben, bekam ich die Antwort: that means the're not good places. Danach machten wir eine kurze Bootstour, bei der ich fasziniert spielen musste und warteten später in seinem 'club'. 'Club' im Sinne von Ort, wo man (also Mann) Member ist mit so Billiard, Tennis, Gym und Bar und so. Ich musste an Jay von modern family denken. Ich erfuhr, dass die meisten original-Mumbaier im Süden wohnen und dort auch Autorikschas verboten sind. (Because they spoil traffic) Das tun sie wirklich, sie fahren wie Arschlöcher, jede Lücke wird genutzt, aber ich dachte, dass sei allgemein akzeptiert. Santosh war supernett und sehr gastfreundlich.
Ich bin so froh, kann ich hier schreiben, denn die Fotos von diesen zwei Tagen wiederspiegeln meine Erfahrungen schlecht. Was ich gerne fotografiert hätte:
Die Kleider der Frauen, die Köche auf der Strasse, die Züge, den Tempel, die Menschen im Tempel.
Aber das hätte sich falsch angefühlt und wäre sehr out of place gewesen.
Was ich stattdessen fotografieren musste:
Gateway of India, Taj Mahal Palace Hotel, die Skyline vom Boot aus, die Universität.
Am zweiten Abend fuhr mich dann der driver zu dem Bahnhof etwas ausserhalb. Es ging vorbei an vielen Slums, was mir erneut die Augen öffnete. Diese Gegenden sind aber tatsächlich sehr geschäftig.
Nun muss ich noch von den Gerüchen schreiben. Ich könnte einen ganzen Brief darüber schreiben. Mumbai riecht intensiv, der Geruch von den Menschen und dem Essen mischt sich und viele Düfte kann ich wiedererkennen, aber für die wenigsten habe ich Namen. Genauso beim Essen. So viele Geschmäcker, die ich nicht zuordnen kann. Zum Teil erkenne ich nicht, ob etwas gut oder schlecht schmeckt oder riecht. Einen Saft auf der Strasse musste ich wegkippen, da ich das Gefühl hatte, er roch nach Schweiss. Aber es war ein Gewürz. Mein Körpergeruch hat sich auch schon verändert. Ich schreibe dies ohne Wertung und nehme es gespannt war. Was das Essen angeht habe ich bis auf einen Burger bei Mac auf dem Weg zum Bahnhof (i mean McDonalds gehört definitiv auch zur kulturellen Erfahrung eines Landes) noch nie Fleisch gegessen ohne mich zu achten. Das Brot muss zerissen werden, aber es kann nur die rechte Hand dafür benutzt werden. Das braucht etwas Übung. Zum Teil rochen die Foodstände auf der Strasse ganz kurz so wie die Lagerküche im Pfadilager. Irgendwie die Kombi aus Zwiebeln und Feuer. Lustig oder?
So, so weit so gut. An diesem Punkt im Brief habe ich schon 2 weitere Tage in Goa verbracht, die komplett anders waren. Vielleicht erzähle ich bald davon oder ich überspringe sie, da ich auch noch was für meine Liebsten aufbewahren muss. So bleibt der erste frische, nicht so verkopfte Eindruck von einer Reiseanfängerin. Die ganzen Gedanken zum Erlebten lasse ich und Versuche soziokultureller Einordnung müssen alle selbst machen.
Nun noch 2 spitzfindige Beobachtungen aus Mumbai. (Viele sagen imfall auch Bombay, ich check es nicht)
- die erste rauchende Person, die ich sah, war eine Frau. (Am zweiten Tag: es wird nicht viel geraucht & nur in Business-Mumbai)
- Einige Männer halten Händchen. (Bzw. halten sie sich an einem Finger.) Ich weiss nicht genau, ob dieses Zeichen von Zärtlichkeit etwas bedeutet. Aber ich kann es kaum positiv wahrnehmen in einem Land, in dem Homosexualität verboten ist.
Liebe Grüsse & ich freue mich, von deinem Vorstellungsgespräch zu hören.
Vera
PS: Danke für deinen Brief! Ich wollte schon schon schreiben: Die gute alte Mathe-Matur-Legende. Jetzt bin ich unsicher, ob es angebracht ist. Aber danke fürs Teilen dieser Gedanken. Was ich nach erhaltenen Reaktionen auf mein letztes Schreiben noch anfügen möchte und eigentlich dazu passt: Humor ist wichtig. Vielleicht unser bester Freund, egal ob wir ihn auf uns selbst beziehen oder halt andere. Und ich glaub, ich klang so, als ob man keine Witze mehr über mich machen sollte. Das war aber nicht so gemeint. Die Grenze von liebevollen oder bösartigen Witzen ist subtil. Aber sie existiert und meistens spüren beide Parteien sie genau. Vielleicht weisst du, was ich meine.

Bazar

„Club“

Thali

Auf dem Boot vor dem Taj Mahal Palace (& Gateway of India) mit Santosh.
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