Liebe Vera
- Michelle Harnisch
- vor 2 Tagen
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Aktualisiert: vor 1 Tag
Es hat ganze drei Tage nacheinander gedonnert nach meinem letzten Brief. Da spricht man sich einmal gegen Gewitter aus und dann rächen sie sich gleich so. Zwei Mal wurde ich richtig verschifft. Einmal auf dem Weg in Therapie, dann sass ich danach eine Stunde pflotschnass auf dem grauen Sofa und tropfte den flauschigen Praxisteppich voll. Dann beim Joggen. Ich war in diesen letzten Wochen tatsächlich einige Male joggen. Ich habe es dir im Spital schon ganz aufgeregt erzählt, dass mein Knie gar nicht wehtat wie die letzten Male immer. Du hast gesagt: «Lohnt sich das Krafttraining also doch.» Wenn ich ehrlich bin, habe ich keine Sekunde daran gedacht, dass es an dem liegt. Krass, dass es tatsächlich was bringt, wenn man seine Physioübungen macht und Kraft aufbaut. Gamechanger. Jedenfalls wurde ich verregnet, aber es fühlte sich gut an. Im Regen zu rennen hat etwas Filmisches. Als ich zuhause war, hat es dann noch mehr aufgedreht mit Wasser und Wind und alledem. Ich mag es, wenn der Regen plötzlich Wellen schlägt, weil es so stark windet. Wenn der Windstoss plötzlich sichtbar ist wegen des vielen Wassers, das vom Himmel fällt. Wie ein Sommergewitter haben sich aber auch diese Regenschauer nicht angefühlt. Trotz mittlerweile warmen Temperaturen. Jetzt fühlt es sich für mich auch endlich an wie Sommer. Und der Regengutsch am letzten Sonntag würde ich sogar schon als Sommergewitter bezeichnen.
Ich habe grosse Hoffnungen für diesen Sommer. Sehr grosse, was vielleicht etwas dumm ist, denn du weisst, wie das mit der Vorfreude manchmal ist. Wenn man sich so viele Erwartungen aufbaut, die kaum eingelöst werden können. Aber bei mir gehört die Vorfreude zum Erlebnis. Auch im Nachhinein färbt die Vorfreude bei mir oft mittelmässige Partys zum besten Abend – die ganze Freude im Voraus wird in meinem Gefühl einfach irgendwie dazugerechnet. Ich freue mich also auf den Sommer.
Ich weiss, dass niemals etwas an diesen einen magischen Campingplatzsommer rankommen wird. Ich war damals 10 Jahre alt, WM 2010 in Südafrika. Ein klassischer Fussballsommer, wie du sie bestimmt auch kennst. «Waka Waka» und «Wavin’ Flag» liefen rauf und runter auf Energy Frankreich (oder wie der wirkliche Name des Senders auch immer ist). Einmal lief «Waka Waka» sechs Mal in einer Stunde, wir haben im Auto mitgezählt. Das war crazy. Das ist ja jedes zweite Lied oder so. Aber diese Zahl hat sich mir eingebrannt.
Das waren die ersten richtigen Ferien mit unserer neuen Stieffamilie. Diesen zwei neuen Brüdern. Ich war es mir noch nicht gewohnt, plötzlich auch eine kleine Schwester zu sein. Viele neue Gefühle also auch, an die ich mich nur unscharf erinnere. Aber wir spielten viel Fussball, wurden wohl angesteckt von der allgemeinen Aufregung um die WM. Meine deutsche Ferienfreundin aus dem Wohnwagen einige Querstrassen weiter bastelte im Kinderanimations-Programm ein Armband für mich in den Deutschlandfarben, weil sie wohl hoffte, dass ich dann eher für die deutsche Mannschaft fanen würde. Hat nicht geklappt. Ich war für die Niederlande. Wir haben das Finale Spanien gegen Holland im Public Viewing in der Campingplatzbar vorne geschaut, das weiss ich noch. Und obwohl ich für Holland war, wettete ich auf Spanien. Nicht so geblendet von den vielen orangen Shirts der holländischen Touris, die auf dem Camping um uns herumschwirrten vielleicht. Meine Brüder und ich gaben alle einen Euro unseres Feriensackgelds in den Pot und am nächsten Tag hatte ich drei Euro Gewinn gemacht. Ich kaufte uns allen ein Wasserglace vom Badikiosk damit, obwohl unsere Eltern bestimmt für uns bezahlt hätten, hätten wir gefragt. In unseren Ferien gab es meistens kein Glacelimit.
Lustig eigentlich, gab es so viele Fussballsommer in meiner Kindheit. Obwohl niemand von uns im Verein spielte oder so. Ich hatte immer wieder Fussballphasen, sie kamen und gingen, und waren meist stark von äusseren Faktoren abhängig. Natürlich hatte ich generell viele Phasen, die kamen und gingen, aber diese wiederholte sich einige Male. Das Shaqiri FCB-Shirt, das ich mir auf den 12. Geburtstag wünschte, ist Beweis dafür. Die grossen Turniere waren jedenfalls gefundenes Fressen für meine obsessive Natur. Ich durfte länger aufbleiben als sonst, wenn ein Schweiz Match in die Verlängerung oder sogar ins Penaltyschiessen ging. Ich trug diesen kindlichen Nationalstolz in mir, den sehr viele Kinder spüren, obwohl es die Schweiz meistens nicht über die Vorrunden hinaus schaffte. Ich trug übergrosse Fakejerseys von bretonischen Märkten, die mir bis zu den Knien reichten. In den ersten Frankreich Ferien (auch Campingplatz) nur mit meinem Vater und meinem Bruder bekamen wir beide ein Italien-Shirt von ihm geschenkt. Ich ein pinkes und B. ein blaues, und in meiner Erinnerung haben wir nichts anderes getragen in diesem Sommer. Wenn ich mir die Fotos dieser Ferien ansehe, bestätigt das meine Wahrnehmung. Das war die WM 2006. Wir schauten das Final in einer Strandbar mit unserem Vater. B. und ich in besagten Italien-Shirts in einer Menge Frazös*innen. Wir waren wohl die Einzigen, die sich an diesem Abend über den Italien Sieg freuten. Später dann kamen Publicviewings mit euch dazu. Billiges Bier. Livestreams im SoLa im Zelt. Rheinschwimmen und danach auf dem Handy den Liveticker checken und hoffen, dass ich richtig getippt habe im SRF-Tippspiel. Letztes Jahr stiess ich im Tapas-Resti mit den aufgedrehten Spanier*innen aus der Küche auf den Spanien Sieg im Halbfinal an, den wir alle nur in verquetschten, seltenen ruhigen Minuten auf einem Handy in der Küche schauten. Ich bin auch immer noch froh, habe ich den legendären Frankreich – Schweiz Match 2020 geschaut.
«Mbappé nimmt Anlauf und Yann Sommer steht da, bereit, den Ball zu krallen. Mbappé gegen Sommer. Mbappé. SOMMER HÄLT! SOMMER HÄLT! SOMMER HÄLT! DIE SCHWEIZ! WOW! VIERTELFINALE! Ja? JA! Oder wird gecheckt? Was isch los? JAAAAA! JAAAA! ER ZÄHLT! DER TREFFER ZÄHLT! DIE SCHWEIZ STEHT IM (gröschte Voicecrack vom Joorhundert) IM VIERTELFINALE! IM VIERTELFINAL DER EUROPAMEISTERSCHAFT! EIN TRAUM! WAHNSINN.»
Iconic Shit, sorry. Ich habe die Hoffnung, dass es ein solcher Sommer wird. Ein Glace, Camping, Fussballsommer. Ist das zu viel verlangt? Ein Hinweis darauf, dass der Sommer wirklich gut wird, ist Folgendes: Kraftklub ist am Open Air St. Gallen der Ersatzact für Kings of Leon, die kurzfristig ausgefallen sind. Ich glaube bekanntlich nicht an Schicksal, aber dass Kraftklub beim einzigen Festival, das ich dieses Jahr besuche, als Headliner einspringt, fühlt sich wie ein Zeichen an. Ein Zeichen für gute kommende Monate. Um meinen Bruder zu zitieren: «Du gsehsch Kraftklub i de nächste zwöuf Mönet zwöi Mau? Simmer im 2018?» Und bekanntlich war der Sommer 2018 (vor allem, wenn man unsere Freundin L. fragt) der beste Sommer.
Ausserdem gute Nachrichten für dich, Vera: Ein EM-Sommer ist garantiert auch mit Kreuzbandriss möglich. Ich schleppe dich schon in alle Publicviewings mit, wenn nötig. Da musst du dir keine Sorgen machen! Auf einen Beamer schauen, Rumschreien und Jubeln kannst du ja. Das geht alles auch mit hochgelagertem Bein. Und beim Deutschland – Schweden Match im Letzi bist du ja sowieso auch dabei. Das wird geil, sag ich dir!
Jetzt noch zu den Kategorien, bevor ich mich noch mehr in sentimentalen Sommer-Erinnerungen als Kind verliere.
Etwas zum Glotzen: Der neue Wes Anderson Film «The Phoenician Scheme». Mama und ich sind letzte Woche essen gegangen und haben Kino-Abend in der Stadt gemacht. Ich fand den Film gut (bin wieder ein bisschen in love mit Michael Cera), Mama fand ihn scheisse.
Etwas zum Hören: Ich muss die neue Kraftklub Single nehmen. «Schief in jedem Chor» ist ein Banger.
Etwas zum Essen: Der Ice Coffee aus der Migi im 1L Tetrapack. 3 Stutz für einen Liter, da kann man nichts sagen – ich habe noch nicht auf den Zuckeranteil geschaut, und vielleicht ist das besser so.
Etwas zum Lesen: Ich habe seit fast drei Wochen nicht mehr gelesen. Das Semester ist zu Ende und ich gönne meinem Kopf eine Lesepause. Aber P. und ich lesen uns gerade in die Fantasy Premier League ein, weil wir nächste Saison eine Tippgruppe machen wollen. Darum lese ich gerade zu viele Premier League Statistiken der letzten Saison.
Wort/Ausdruck der Woche: Tschutte – eines der besten Wörter im Schweizerdeutschen, finde ich. Ich wusste nicht, dass es aus dem Englischen kommt, aber macht eigentlich Sinn. Fussball kommt aus England, darum ist auch das schweizerdeutschen Fussballvoci aus dem Englischen abgeleitet. Schutte von to shoot, Gool, Penalty, etc.
Ich glaube, das war alles. Ich hoffe, du hältst es noch aus mit Bein hochlagern und chillen, etc. Ich bringe dir bald wieder Glace vorbei!
Alles Liebe
Michelle

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