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Liebe Michelle

  • Vera Rieger
  • vor 6 Stunden
  • 4 Min. Lesezeit

Sodeli. Jetzt sollte ich mir echt mal wieder Mühe geben. Wir haben ja letztens darüber gesprochen, dass wir Beide Lust haben, den Ton im Blog ein wenig zu ändern, ein bisschen weniger ich-habe-das-und-das-gemacht und mir-geht-es-so-und-so und das-und-das-stresst-mich. In gewisser Weise von meinem Leben berichten werde ich trotzdem. Aber vielleicht wollen wir auch unseren Freund:innen nicht zu viel geben. Um den Punkt trotzdem kurz abzuhaken: ich bin gerade hauptsächlich zu Hause und lagere mein operiertes Knie hoch.


Ich möchte dir ein paar Gedanken zum Spitalkosmos dalassen, in welchen ich letzte Woche gezwungen war, einzutauchen. Im letzten Brief habe ich dir schon den Film «Heldin» empfohlen, an dieser Stelle will ich diese Empfehlung gerne noch einmal unterstreichen, er läuft nicht mehr so lange im Kino, aber er ist ein Muss! Im Spitalbett an der Fusion hängend musste ich sehr oft an diesen Film denken. Mir wurde wieder bewusst, wie krass der Pflegeberuf ist. Eigentlich weiss ich es, aber zum Teil brauche ich trotzdem einen solchen Reminder.  


Nach meiner OP bin ich lange nicht aufgewacht, da ich davor ein Beruhigungsmittel mit Benzos bekam. Als sich dann im Aufwachraum endlich langsam meine Äuglein weiteten, flutete mich die Pflegerin mit Morphin voll. Immer wieder gab ich als Schmerz 4-5 an, denn ab 3 gibt es weitere Mittel. Es löst ein sehr wohliges Gefühl aus, was auch Angst macht. Plötzlich liegst du da und verstehst, warum all dieser Stoff, welcher da in dich hineingepumpt wird, auch als Droge missbraucht wird. Daran wollte ich in der Folge nicht denken. Kurz nachdem ich aufs Zimmer geschoben wurde, rollte auch das Bett meiner Nachbarin hinein. Sie hatte eine Fuss-OP hinter sich. Ich war den Rest des Tages noch ziemlich benebelt. Einmal mussten mich drei Pflegerinnen von der Toilette zurückbegleiten, da mein Kreislauf beinahe kollabierte. Meine Bettnachbarin schlief entweder oder sie kotzte. Bei jeder neuen Pflegerin beschwerte sie sich, dass sie Morphin bekommen hatte, obwohl sie ausdrücklich gesagt hätte, dass ihr davon schlecht wurde. Diese wiesen darauf hin, dass sie nichts damit zu tun hätten, da dies Sache der Anästhesie war. Sie blieben aber nachsichtig und brachten ihr immer wieder neue Plastiksäcke, gegen Abend bekam sie dann eine Akkupunktur, was zu helfen schien. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, wahrscheinlich wegen dem Dormikum am Tag. Wenn ich nicht schlafen kann, muss ich immer oft aufs WC. Da mein Kreislauf aber instabil war, brachten sie mir einen Topf. Das ging gut. Aber wie krass ist es, einfach täglich neuen fremden Personen den Intimbereich abwischen zu müssen? Die Routine war in den Handgriffen der Pflegerin zu spüren. Ich fühlte mich ausgeliefert, war ihr aber gleichzeitig sehr dankbar. Alles lief wie vom Laufband, das Essen kam stets pünktlich, wenn ich klingelte, war immer eine da. Dieses Maschinelle grauste mir auch ein wenig. Am nächsten Morgen um 7 kam für fünf Minuten kurz mein Orthopäde vorbei, ich bekam nur halbwegs mit, was er mir sagte. 

 

Die Pflegerinnen wechselten sich oft ab, nur Dilana war meistens da. Sie löste meine Trenage, in der das Blut zu gerinnen begann, am zweiten Tag die Infusion, schnitt meinen Verband auf und klebte mir einen neuen. Sie war noch relativ jung. Ich spienzelte auf die Schilder der verschiedenen Pflegefachpersonen. Dilana war FaGe EFZ. Ich musste daran denken, dass einige meiner Schüler:innen (tatsächlich auch ein Junge) nach dem Sommer auch eine Lehre im Gesundheitsbetrieb beginnen. Ich traue das ihnen auch zu, aber sie sind noch so jung und dass meine kleinen frechen Schülerlis in drei Jahren oder etwas mehr eine so krasse Verantwortung wie Dilana übernehmen würden, fuhr mir ein.


Dies lässt mich auch immer wieder an unserem Schulsystem zweifeln. Wie du vielleicht weisst, bin ich kein Fan von der frühen Selektion, der Einteilung in A, E und P, beziehungsweise dem Umstand, dass A-Schüler:innen gar nicht die Möglichkeit bekommen, eine weiterführende Schule zu besuchen. Es ergibt in meinen Augen einfach keinen Sinn, dass die nicht-privilegierten Kinder, welche aus verschiedensten Gründen schulisch etwas langsamer sind, am ehesten in den Arbeitsalltag gezwungen werden. Mit 15 einem Spital zu arbeiten ist so viel schwieriger und belastender als mit 15 aufs Gymnasium zu gehen. Umso mehr bewundere ich alle, die diesen Weg gegangen sind. Viele Lehrabbrüche bezeugen aber, dass es nicht funktioniert. Der Notstand in der Pflege ist ja kein Geheimnis. Dass der Beruf bessere Arbeitsbedingungen und vor allem viel höhere Gehälter braucht, ist in unserer Bubble, glaube ich, Konsens. Aber ich finde auch, dass niemand unter 18 in einem Spital als Pflege arbeiten sollte. Ich lehne mich mit dieser Aussage weit aus dem Fenster, habe selbst keine Erfahrung. Bekannte von uns haben auch gute Erfahrungen gemacht, ich ziehe den Hut vor ihnen.


So, irgendwie wurde es politischer als gedacht. Das hat mir aber gutgetan, über mich selbst denke ich sonst schon genug nach. Gerade sitze ich übrigens auf der Dachterasse und schaue dem Himmel mit der leicht vom Dunst verschleierten Sonne beim Wärmerwerden zu. Unsere Dachterasse ist wirklich 10/10. Habe ich sicher schon sehr oft gesagt.


Kommen wir zu den Kategorien.


Etwas zum Lesen: Habe wieder etwas mehr Mühe mit der Lesekonzentration, aber «la Tresse» («Der Zopf») von Laetizia Colombani begann ich in der schlaflosen Nacht im Spital und das lässt sich wirklich lesen.


Etwas zum Hören: Barbara Bleich von Sternstunde Philosophie hat jetzt einen Podcast und in der ersten Folge sprach sie mit Nina Kunz über das Grübeln. Ich habe es eigentlich vor allem gehört, um dabei weniger zu Grübeln um 6 Uhr morgens. Die klugen Dinge, welche die zwei krassen Frauen sagten, waren für mich zweitrangig, besonders mochte ich ihre angenehm beruhigenden Stimmen. (Obwohl Züridütsch, chasch der vorstelle?!) Lohnt sich zum Zuhören oder zum dabei Wegdösen.


Etwas zum Essen : Wir haben jetzt ein Biogemüsekorb-Abo. Ja, sehr bünzlig (und sehr teuer). Diese Woche gab es vor allem Pastinaken.


Etwas zum Glotzen: Ginny & Georgia Staffel 3.


Wort der Woche: Trombosespritzeeinstichpunkte. (Mein Bein ist ein Sternenhimmel)

 

Alles Liebe

Vera



 
 
 

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