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Liebe Vera

  • Michelle Harnisch
  • vor 3 Tagen
  • 6 Min. Lesezeit

Ich wollte eigentlich wieder einmal einen Brief schreiben, der unberührt von meinen Unsicherheiten und meinen Sorgen bleibt, daher klammere ich auch jegliche Worte über Prüfungen und Abgaben gekonnt aus, aber trotzdem bin ich gerade etwas melancholisch gestimmt, darum bleibe ich ehrlich. Wobei ich trotzdem betonen möchte, dass es mir gerade wieder sehr gut geht. Natürlich ist das tagesabhängig, aber die Sonne, die Temperaturen, der Mai haben sehr geholfen. Mir anscheinend bedeutend mehr als dir, weil ich den Stress dieses Jahr etwas zu gut von mir weggeschoben habe, meine Prioritäten mehr bei Mental Health als bei Uni und Jobsuche gesetzt habe. Diese Woche also wieder Fokus auf die weniger spassigen Dinge im Leben. Denn immerhin hat die Vorlesungsfreie Zeit wieder begonnen und ich habe mehr Zeit. Aber jetzt zu meinen durchmischten Gefühlen gerade.

 

Ich merke, dass ich es gerade wieder schwieriger finde, single zu sein, als auch schon. Vielleicht wegen deiner Party letzte Woche, vielleicht weil es donnert. Es ist Sonntagabend, zehn Uhr und ich bin allein zuhause. Eigentlich okay, meistens sehr okay, aber es donnert, ein Gewitter (ich würde gerne Sommergewitter schreiben, aber weil es noch nie über 30 Grad war dieses Jahr, fühlt sich das Wort noch nicht ganz richtig an, obwohl es jetzt bereits Juni und damit eigentlich Sommer ist). Ich erinnere mich an einige der letzten Gewitter, die nachts wüteten. Damals war ich noch in einer Beziehung und obwohl ich nachts immer aufwache, wenn es donnert, fühlte es sich in diesen Nächten nicht ganz so schlimm an wie jetzt. Etwas Kindliches keimt in mir auf, wenn der Donner grollt und der Wind gegen die Fenster peitscht, wenn der Nachthimmel plötzlich von einem Blitz zerrissen wird und es für eine Sekunde heller ist als bei strahlender Sonne. Ich erschrecke mich immer sehr. Ich fürchte mich nicht, es ist eher eine Erinnerung an die Angst, die ich früher verspürte. Aber der Lärm beunruhigt mich, die Regengeräusche bringen mich nicht runter wie sonst. Ich erinnere mich an Abende als Kind, als ich bei offenem Fenster in meinem Kinderzimmer voller Justin Bieber oder One Direction Poster stand und jedes Mal zusammenzuckte, wenn das Grollen wieder ertönte. Weil es so brutal wirkte. Weil ich die Sekunden zählte zwischen Licht und Lärm und weil ich nicht nur rational wusste, dass das Unwetter näherkam, wenn sich dieser Abstand verringerte, sondern das auch in meiner Brust spürte. Manchmal kletterte ich dann zu Mama oder B. ins Bett, um mich zu beruhigen, manchmal schrieb ich Dinge auf, um mich zu sammeln, manchmal starrte ich weiter und versuchte, diese unbegründete Angst irgendwie auszuhalten, sie mir abzutrainieren. Angst wovor weiss ich nicht genau. Dem Ausgeliefertsein? Dem Lärm? Allem, was ich damals mit diesen dunklen Wolken, der sich anbahnenden Dunkelheit verband (Monster unter dem Bett, Verlorengehen, im SoLa nachts allein aufs WC müssen, etc.)?

 

Nach dem viertägigen Girls-Wochenende die letzten Tage in den Bergen fühlt sich das noch krasser ein. Diese Aufspaltung in ich allein und ich mit meinen Freundinnen. Nicht unbedingt schlecht aber immer noch ungewohnt. Auch nach fünf Monaten noch. Auch wenn ich auch vor einem Jahr in einem solchen Moment vielleicht gerade nicht bei S. gewesen wäre, hätte ich ihn doch angerufen, das weiss ich. Seine Stimme über meine Airpods hätte diese Unruhe, ausgelöst durch den Donner, aufweichen lassen. Ich hätte mich nachts an ihn gekuschelt und mich aufgehobener gefühlt. Oder wenigstens gewusst, dass er vielleicht auch aufwacht, an mich denkt und weiss, dass ich gerade nicht schlafen kann, weil ich Gewitter in der Nacht hasse. Vielleicht vermisse ich einfach das Gefühl, wirklich gekannt zu werden, obwohl ja gerade das gegen Ende gefehlt hat. Und auch wenn ich mittlerweile weiss, dass mich meine Freund*innen eben auch so kennen, vielleicht besser, vielleicht auch einfach auf eine andere Art und Weise, ist es doch nicht dasselbe. Vielleicht hast du als Person in einer siebenjährigen Beziehung erhellendere Gedanken zu dieser komischen Aufspaltung zwischen dem eigenen Gefühl, Freund*innenschaft und Partner*innenschaft als ich gerade. Bitte, klär mich auf. Im Spital hast du vielleicht einen genialen Einfall dazu.

 

Heute bin ich von oben erwähntem Girlstrip heimgekommen. Wir waren spazieren oder wandern (eigentlich immer zu kurz, um es wandern zu nennen, aber spazieren in den Bergen fühlt sich für mich einfach wie wandern an), sind im vielleicht blausten und klarsten See geschwommen, in dem ich bis jetzt geschwommen bin, haben Bier getrunken, geraucht, Fussball gespielt, schweigend nebeneinander Social Media konsumiert, Musik gehört und viel geredet, viel gelacht, viele Batterien wieder aufgeladen. Manchmal ist das alles, was ich brauche. Funktioniert auch ohne Berge und Seen, ehrlich gesagt, die waren bloss ein zusätzliches Plus. Aber diese spezielle Weitsicht, die man nur in höher gelegenen Dörfern, als unsere Dörfer und Städte es sind, bekommt, tun mir schon immer sehr gut. Ich habe L. gefragt, ob sie auch manchmal denkt, dass es einem besser gehen würde, so im Allgemeinen, wenn man immer eine solche Aussicht hat. Denn ich denke das ziemlich häufig. Sie meinte, vermutlich gewöhne man sich an den Effekt und vielleicht hat sie damit auch recht. Ich werde es wohl nie wissen, denn du weisst, dass ich nie wegziehen können werde von all meinen Dingen und Leuten, die ich bei mir zuhause so nahe habe, egal wie schön die Aussichten anderswo sind. Wir haben uns schliesslich darauf geeignet, dass das Meer die Ausnahme ist. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass der Meer-Effekt sich jemals legen wird.

 

Ich bin gerade also doch sehr voll mit guten Gefühlen, mit viel Liebe für meinen Freund*innenkreis, fühle mich sehr aufgeladen und sehr bereit für die nächsten Wochen. Trotz Jobsuche, meinem tiefen Kontostand und dem Standardlevel an Existenzangst. Mal schauen, was der Juni so bringt, aber ich bin sehr optimistisch gestimmt.

 

Update zu meiner Fussballphase: die hält sich immer noch beharrlich. Sie wird aber sehr gestützt von meinem TikTok- und Youtube-Algorithmus und den letzten paar Spielen, die ich gerade so geschaut habe. Darum drei Matchs, die mich abgeholt haben die letzten Tage:

 

  1. Der Newcastle – Everton Match letzten Sonntag, der erste Match, den ich allein zuhause geschaut habe, den Newcastle zwar verloren hat, der an ihrer Tabellenplatzierung aber nichts mehr verändert hat. Den zeitgleichen Aston Villa Match und das ganze Schiri und zu früh Pfeifen Drama lasse ich jetzt bewusst aus, ich erkläre dir die Kontroverse und die daraus resultierenden Diskussionen dann gerne bei meinem Spitalbesuch diese Woche, um dich abzulenken oder so. Newcastle ist nächstes Jahr jedenfalls in der Champions League dabei, vielleicht hält sich das Interesse ja bis dann, wir werden sehen.

  2. Champions League Finale in München: S. und ich haben den Match gestern auf dem Balkon unseres AirBnBs auf ihrem Handy geschaut. 5:0 für PSG gegen Inter Mailand. War wild. Wir waren aufgeregt ab jedem Goal, sind froh, haben wir dieses monumentale Resultat (höchster Champions League Final Sieg ever, erster PSG Champions League Sieg ever) live gesehen. L. interessiert sich überhaupt nicht für Fussball und war zwischenzeitlich etwas out, aber nach drei Tagen aufeinandersitzen war das okay, meinte sie.

  3. Cupfinal Basel – Biel: den habe ich heute bei Mama und B. daheim in B.s Männergruppe geschaut. War wild, sag ich dir. Ein bisschen Mansplaining war leider dabei, aber weil ich B.s Schwester bin, weil B. irgendwann meinte «d Misch cheggts imfall» und weil die meisten mich schon lange als B.s grosse Schwester kennen, hielt es sich in Grenzen. Ich war die Einzige, die vor dem Spiel 1:4 getippt hat und das hat mir etwas Street Credibility gegeben. Ich hätte es Biel gegönnt, hätten sie als 3. Liga Team den amtierenden Schweizermeister FCB geschlagen, aber naja. Es isch wie’s isch.

 

Ich freue mich auf deinen Solothurn-Recap. Trotz meiner Furcht vor Solothurn-FOMO habe ich das Wochenende fast ohne überstanden. Nur am Freitag ein bisschen dank Instastorys, aber das war zu erwarten. Ich freue mich über deine Erfahrung als Lesende (wie krass, Mann!!!). Zum Schluss noch meine Kategorien.

 

Etwas zum Lesen: Ich hab kein Buch fertiggelesen die letzten Wochen. Aber heute beim Zmorge hat S. SRF Kommentarspalten zum Champions League Finale vorgelesen, was sehr unterhaltsam war. Meistens etwas wütend und boomerig, aber sehr unterhaltsam.

 

Etwas zum Hören: «Passing Thought» von Arthur Hill. Er ist gerade auf Tour und geht im November noch einmal, aber leider ist das örtlich nächste Konzert in Köln. Wenn ich in einem Monat immer noch so locked in bin (laut dir ist das mein neues Lieblingswort), dann kaufe ich vielleicht Tickets, mal schauen.  

 

Etwas zum Glotzen: Der «We’ll have a look. Of course we’ll have a look»-Sound auf TikTok und sonst überall. Ich finde das Original gerade nicht, darum hier eine Rugby-Version extra für dich: https://www.youtube.com/shorts/q0GJ1e2Hdc8 Gerade geschieht nichts in unserer WG, was P. und ich nicht mit «We’ll have a look» kommentieren. Ich lache jedes Mal.

 

Etwas zum Essen: Alles aus dem Airfryer. Wir haben einen Airfryer mit in unsere Ferien genommen und es gab jeden Abend etwas daraus. Immer andere Fleischalternativen, immer innerhalb von 10 Minuten und immer ziemlich geil. Schade haben wir in unserer WG-Küche keinen Platz mehr für weitere Küchengeräte.

 

Ausdruck der Woche: Full Kit Wanker 

 

Ich drücke dir die Daumen für die OP und freue mich darauf, dich bald wiederzusehen. Han di gärn und alles Gueti!

 

Alles LiebeMichelle

 

PS: KRAFTKLUB BRINGT EIN NEUES ALBUM RAUS UND ICH BIN SOOOOOO HYPE! Wie konnte ich das im ganzen Brief vergessen? Wir haben Tickets für ihr Konzert in Zürich und der März 2026 kann nicht bald genug kommen. Mein 16-jährigen Herz schlägt gerade sehr fest.


Graubünden-Snapshot mit Hauptstrasse
Graubünden-Snapshot mit Hauptstrasse

 
 
 

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