Extrapost aus Thiruvananthapuram
- Vera Rieger
- 20. Feb. 2024
- 6 Min. Lesezeit
Liebe Michelle
Ich sitze gerade in einer sehr stark parfümierten, befeuchteten und gekühlten Kabine eines Inlandflugs von Thiruvananthapuram im Südwesten Indiens nach Chennai im Südosten. Du kannst diesen Ort weder lesen noch aussprechen? Nun ja, mir geht es gleich und den Britten auch, als sie damals Indien besetzten. Deswegen änderten sie den Namen zu Trivandrum. Es wurde nach der Unabhängigkeit wieder umgenannt (wie viele andere Orte), aber auch heute nennen es alle nur Trivandrum. Ich glaube auch für Inder:innen ist es zu lange. Obwohl ich für den englischen Imperialismus überhaupt nichts übrig habe, bin ich ihnen dafür ein bisschen dankbar.
Ich versuche heute nicht länger zu schreiben als die 1h20 meines Flugs.
Von Munnar bin ich über Thekkady nach Allepey gereist mit dem Fahrer. In Allepey habe ich eine Nacht auf einem Hausboot in den berühmten Backwaters in Kerala verbracht. Eine atemberaubende Landschaft. Ehrlich gesagt war dieser Teil es ein bisschen wie ein Flitterwochentrip alleine. Sehr viele romantische locations. Es ist eine typische touristische Route (für alte Franzosen & honeymoon couples aus dem Norden Indiens), sobald ich aber weg von Touristenattraktionen ging, war ich stets wieder die einzige Ausländerin. (Z.B. abends, wenn ich mit dem Fahrer essen ging) Deswegen hat es sich oft wie ein switchen zwischen zwei Welten angefühlt.
Danach habe ich vier Tage in Trivandrum bei Zaira verbracht, das war sehr schön, auch da ich davor oft nur unter Männern war. Sie ist eine junge Ärztin, lernt gerade Deutsch, um dann in Deutschland zu arbeiten und wohnt bei ihrer Grossmutter.
Hier ein paar Dinge, die ich gesehen, erfahren, gelernt oder erlebt habe.
Sehr viele wilde Affen in Thekkady (da wo die Touris waren)
Elefanten (omg) von fern auf einer Bootssafari, sowie Wildschweine und Sambar-Rehe und Warane zu nahe (Danke Emilie für die Tierkunde-Stunde über Whats App)
Schöne Seen zwischen Teeplantagen.
Viele Kirchen im Hinterland von Kerala, obwohl Christen nur eine Minderheit sind. Der Guide von Kochi meinte, die Leute schicken Bilder der Slums in Mumbai nach Europa, kriegen Spenden und bauen damit Kirchen. Bisschen zynisch, aber vielleicht ist da was dran. Übrigens muss man auch in Kirchen hier die Schuhe ausziehen. Allgemein ist das Leben von Glauben hier ähnlicher zwischen Hindus und Christen (in einer Moschee war ich leider nicht) als zwischen Christen hier und bei uns. Es ist alles farbig, bei festivals hängen überall Fähnchen herum, die Leute sind schön traditionell indisch angezogen und überall hat es LED‘s. Es wird musiziert, aber die Euphorie hält sich in Grenzen. Tempel gibt es unzählige in den Städten, einige sind berühmt, pompös und gross, die meisten sind aber eher unscheinbar.
In Ganesh-Tempel (dieser Elefant) werden Kokosnüsse 🥥 geopfert, dafür kauft man sich eine Kokosnuss und schmettert sie gegen eine Metallwand, damit sie zerbricht. Vielleicht hilft das, wenn man mal frustriert ist mit den Göttern? Es hat so viele Kokosnüsse hier (habe auch oft frisches Kokosnusswasser getrunken), dass es kaum food waste ist.
Ich kann jetzt wirklich schon gut mit der rechten Hand essen, dafür musste ich die Schiebetechnik lernen, bei der mit den vier Fingern ein Löffel geformt und mit dem Daumen das Essen in den Mund geschoben wird. Man darf keine Hemmung haben, das Essen wirklich anzufassen. Es ist unvermeidbar, dass die rechte Hand immer nach Essen riecht.
Essen (für Interessierte): Zum Frühstück hatte ich oft dosa, so eine Art Crepe (gibt es auf unterschiedliche Arten) mit sambar (eine Art Gemüsesuppe) oder idly (so eine Art Reisfladen glaube ich) mit Tomaten- und Kokoschutney. Zum z‘Mittag gibt es in Kerala immer Reis. Der Reis ist ziemlich wässrig und schmeckt ohne Beilage fad. Dazu gibt es in verschiedenen Behältern, die einem einfach hingestellt werden, daal, sambar, pikle (extrem salziges und stark gewürztes eingelegtes Gemüse, mag ich nicht), ghee (so eine Art Buttersauce, mag ich auch nit so sehr), Gemüse, in Jogurt eingelegte Zwiebeln und anderes, z.B. frittierter Fisch. Der Reis ist aber der Hauptbestandteil und nicht die Beilage. Nach der Arbeit geht man am Strassenrand einen Chai trinken und isst dazu einen Snack, frittierte Bananen, oder sonst etwas frittiertes mit Kokosnuss, Teig, Bananen. Alles sehr süss. Zum z‘Nacht hatte ich oft porota, ein Fladenbrot, wieder mit Beilage, masala-curry, wieder dosa (gibt es zum Frühstück und z‘Nacht, aber nicht am Mittag) oder feinen Fisch. Es gibt extrem viele verschiedene Fladenbrote omg, die ich jetzt nicht alle aufzählen kann, aber lustig ist, dass ich noch nie naan hatte, das einzige Brot, dass ich davor kannte. Das sind die Dinge, die ich mir merken konnte, es gibt noch viele andere, oft Nuancen.
Ich vermisse Salat und rohes Gemüse sehr. Ich freue mich auch wieder auf Pasta. Das wird ein Fest.
Essen ist in Indien kein gemeinschaftliches Event, man spricht nicht miteinander, es wird eher schnell gegessen und das Restaurant ziemlich zügig wieder verlassen. Aber die Vorbereitung braucht lange und das Essen schmeckt gut.
Der grösste Kulturschock war für mich, dass es normal ist, dass gewisse Personen servants sind und andere masters. (Dieses Wort wird nicht benutzt). Auch Zairas Grossmutter hatte eine maid, ein andere Verwandte einen boy. Ihre Familie ist auch klar obere Mittelschicht. Ebenso mit dem Fahrer, den ich hatte. Mein erzwungener Versuch ihm klarzumachen, dass wir gleichwertig sind, ging übrigens etwas nach hinten los. Er hatte dies falsch aufgefasst und kam mir zu Nahe (in die Haare fassen, Arm um Schulter, mich „baby“ nennen), was ich nicht wollte. Trotzdem verbrachte ich die Abende biertrinkend in seinem Auto. Es ist nichts Schlimmes passiert und ich konnte mich abgrenzen. Aber ich musste realisieren, dass ein Begegnen auf Augenhöhe zwischen Mann und Frau und master und servant nicht möglich ist. Das war ernüchternd für mich.
In Zairas Familie sind alle überall, sie ist in der Schweiz und in Dubai aufgewachsen, ihre Mutter wuchs in Srilanka auf, ihre Cousins wohnen jetzt in Deutschland, die eine Tante arbeitete als Zahnärztin auf den Malediven (ihr Mann blieb in Indien („you don‘t get divorced here, even when you don‘t live together“), eine andere ferne Verwandte arbeitete im HR auf Katar, ihr Onkel als Ingenieur irgendwo. Crazy für mich. Es ist in Indien einfach normal, dass man ins Ausland geht, wenn man eine gute Ausbildung hat.
Ich habe eine 2.5-stündige Malayalam-RomCom gesehen (etwas prüder als Bollywood) und geliebt! Die Frau, die der Protagonist am Schluss geheiratet hat, kam einfach erst nach der Pause vor, lol. Handlungen sind sehr anders aufgebaut und die Moral war sehr klar: Rauchen, Trinken und Party machen ist schlecht, Lernen gut, Heiraten und Familie auch (und definitiv). Diese Aussage liebte ich natürlich nicht, aber die Machart dieses Films war einfach sehr unterhaltsam.
Alle indische Popmusik ist Filmmusik.
(Okay ab hier schreibe ich im Hostel in Chennai, mein I-Pad war abgestürzt im Flugzeug (zum Glück nur das I-Pad, Schenkelkopfer))
Alle Restaurants sind angeschrieben mit veg oder non-veg. Dies wird sehr klar getrennt, oft gibt es beides aber manchmal auch nur pure veg. Das bedeutet dann auch ohne Eier. Bei rooms, Bussen und Zügen gibt es eine klare Trennung von AC/ non AC. Daran spaltet sich auch die Gesellschaft, die Hitze zu ertragen ist die Last der Armen. Übrigens hatte ich die letzen 3 Nächte erstmals auch keine AC, nur einen Ventilator, es ist wirklich heiss und gewöhnungsbedürftig.
Die meisten Männer in Kerala tragen den traditionellen mundu, einen Rock, den man hochkrempeln kann. Ich finde ihn sehr stilvoll, gerade bei jungen Männern. Ich muss auch ein bisschen an ultralinke heterosexuelle Männer bei uns denken, die sich sehr woke fühlen, weil sie einen Rock tragen.
Indien ist so nass. Man kann sich nie abtrocknen. Weder die Hände, noch sonst was. Ich verstehe, dass es Sinn macht, sich den Po mit Wasser abzuwaschen, es ist hygienischer, aber dann habe ich immer eine nasse Unterhose? Blasenentzündung ahoi. Das ist mir ein Rätsel, imfall. Ich glaube, dass ist auch ein Grund, warum alle Leute so viele Kleider anhaben.
So, heute ist mein letzter Tag in Indien. Ich bin auch etwas reisemüde. Tatsächlich bin ich einmal über das Land geflogen für einen Tag, es ist total dumm, aber eigentlich wollte ich die ganze Halbinsel auf dem Landweg überqueren und hatte nur den Flug schon im Voraus gebucht, musste mir dann aber eingestehen, dass es zu viel ist.
Morgen fliege ich nach Sri Lanka, um surfen zu gehen. Ich habe mir vorgenommen, mich dort nicht für die Kultur zu interessieren. Weil ich sowieso enttäuscht wäre, da ich zu wenig mitbekommen werde. Ich gebe all meine Aufmerksamkeit dem warmen indischen Ozean. In dessen Genuss durfte ich schon kommen, ein magisches Mal mit Zaira beim Sonnenuntergang - sie voll gekleidet mit T-Shirt und Leggins und ich mit meinem Bikini im brazilian style.
Die Zeit ist glaub um. Ich möchte mich für deinen sehr schönen Brief mit den vielen Gedanken noch bedanken. Er hat mich auch zum Nachdenken gebracht und ich werde nächstes Mal darauf eingehen. Vorweg nur schon so viel: Ich glaube, dass ich mehr über Dinge erzählen möchte, liegt daran, dass ich selbst versuche, aus meinem Kopf herauszukommen, in dem ich neue Dinge lerne. Und das versuche ich dann zu teilen. Aber ich bin auch immer unsicher, was schreiben und bei diesem Brief dachte ich auch oft so, okay, aber für diese Infos kann man auch einfach „wie ist Indien‘“ googeln. Stimmt wohl.
Ich sage also hiermit Tschüss zu aufgehängten Chipspackungen am Strassenrand, dem Kessel mit einem kleineren Kessel darin im washroom und viele andere Dinge, die es vielleicht in Sri Lanka auch gibt.
Alles Liebe, bis bald
Vera
PS: Es stimmt, ich habe mich nicht an meine eigens eigeführte Rubriken gehalten, ich dachte, ich lasse es in diesen Reiseposts, sie kommen nächstes Mal wieder (sind schon geschrieben). Und ich möchte auch noch anmerken, dass du dich nicht an deine Keine-Entschuldigungen-Regel gehalten hast. Das Kässeli füllt sich.

Kanutour in den Backwaters für Fussfetischist:innen



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