Liebe Michelle
- Vera Rieger
- 27. Okt. 2023
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Jan. 2024
Danke für deine schöne Antwort und danke dafür, dass du aussprechen bzw. aufschreiben kannst, was mir nicht gelingt. Ich bin auch dankbar, dass wir uns gegenseitig Briefe schreiben und Gedanken austauschen können. Das war zu viel Danke. Aber du weisst, was ich meine. Ich schätze deinen Mut zur Verletzlichkeit. Ich habe das Gefühl, ich verstecke mich oft hinter kurzen Sätzen, Sarkasmus und/ oder Ironie (Was dann auch immer der Unterschied sei, bitte erklär’s mir!). Davon kann ich noch viel von dir lernen.
Dein Buchmessebericht hat mich sehr zum Schmunzeln und Staunen gebracht, letzten Endes war ich doch am meisten davon berührt, dass ihr euch abends einen gemütlichen Mädelsabend mit Gesichtsmasken gewährt habt. Zufriedene und erfüllte Erschöpfung ist doch eines der schönsten Gefühle überhaupt. Ehrlich gesagt war oder bin ich immer noch etwas eifersüchtig. In letzter Zeit habe ich viel über soziale Kontakte nachgedacht – auch da ich mit F. zusammengezogen bin und sich somit in meinem sozialen Alltag einiges geändert hat – und dabei zum Schluss gekommen, dass für Zufriedenheit gute Arbeitskolleg:innen das Wichtigste sind. Wenn sie dann auch noch Freundinnen werden, umso besser. Das mag jetzt banal klingen und es ist allgemeiner Konsens, dass in jedem Job die Leute der wichtigste Faktor sind. Aber ich glaube der Effekt geht über die Arbeit hinaus. Es ist zu anstrengend, jeden Abend mit Freund:innen etwas abzumachen. Wenn du aber jeden Tag beim Mittagessen oder Kaffee trinken abladen kannst, hilft das enorm. Vielleicht spüre ich das gerade jetzt besonders, da ich hier am Theater niemanden habe, dem ich wirklich vertraue, mit dem ich mich wirklich gerne unterhalte, mit dem ich Mittagessen möchte. Dazu kommt natürlich, dass ich nichts zu tun habe und meine Stelle eigentlich eine 20% Sekträter:innestelle ist. Lol. Ich werde dieses Wort jetzt wieder gebrauchen, letztens habe ich im ZeZEIT Magazin – dass ich nur habe, weil ich es nicht geschafft habe, das Probeabo zu kündigen, aber tun wir mal so, als wäre ich einfach ultrabelesen, F. flippt bald einmal aus, weil die schiere Papierflut der dicken Zeit uns zu ertränken droht und ich es nicht schaffe, sie immer gleich im Altpapier zu entsorgen, da so viel Arbeit dahintersteckt und "vielleicht möchte ich es ja noch lesen" –, im immerhin handlichen Magazin also war ein spannender Bericht über eine Fotografin, die einem Häftling auf Lebenszeit in den USA Fotos von der Aussenwelt schickte. Sie schrieben sich auch Briefe und er benutzte nach fast jedem Satz "LOL". Durch dieses trockene Wort, welches einzig dazu dient, alles, was man sagt abzuwerten, also auch sich selbst, fühlte ich mich auf eine seltsame Weise sehr verbunden mit ihm. Ich benutzte in der Vergangenheit auch oft LOL.
Meine Chefin hat mir übrigens mitgeteilt, dass die Leitung mein Praktikum nächstes Semester nicht mehr ausschreiben wird, weil sie sparen müssen. Wohl eher, weil es diesen Posten nicht braucht. Ich habe mir deswegen überlegt auf Ende Oktober zu kündigen, denn dann könnten sie ja noch mehr sparen (Emoji mit Sternen als Augen). Win-Win. Ich möchte mich jetzt nicht weiter beschweren, das ist wirklich langweilig und hat gar keinen literarischen Wert, aber immerhin gibt es jetzt einen Cliffhanger. Den Arbeitslosen-Cliffhanger.
Weisst du, was lustig ist? Ich habe am Tag, als du mir den Text geschickt hast, das erste Mal unabhängig von dir vom Begriff Imposter-Syndrom gehört. Eine Bekannte, die mit mir als Statistin in einem Theaterstück spielt, aber gerne selbst Schauspielerin wäre, hat davon gesprochen. Ich hatte sie gefragt, ob sie Lust hätte, zusammen ein Projekt zu machen. Ich kenne das Gefühl nicht wirklich. Vielleicht habe ich zu wenig Respekt vor der Arbeit von anderen Menschen oder ich überschätze mich selbst. Aber ich habe öfter das Gefühl, dass ich spannendere Arbeit verdient hätte. Vielleicht bin ich auch einfach arrogant. Und sicher frustriert. Frustration ist meiner Meinung nach das Gefühl, welches auf der Unsexy-Skala an oberster Stelle steht. Ich bin nicht ganz sicher, welches Gefühl die Sexy-Skala anführt. Hast du eine Idee? Es gibt noch einen Begriff, den ich an diesem Tag dank deines Textes gelernt habe: Heterotopie. Meine Google-Suchen ergaben, dass eine Heterotopie ein isolierter Ort ist, der nach eigenen Regeln funktioniert, oft eine realisierte Utopie. Hoffentlich stimmt das 😊
Deine Gedanken zum Gaza-Krieg kann ich sehr gut nachvollziehen. Besonders das zu viel sein. Dein Vorsatz, dich von Meinungen nicht beeinflussen zu lassen, finde ich spannend. Meiner Meinung nach merkt man jetzt gerade besonders, dass es keinen neutralen Journalismus, keine Berichte ohne Meinung gibt (zum Beispiel auch bemerkbar in dem ZEIT–Artikel zur Buchmesse, den du als Nachtrag zu deinem Text geschickt hat). Vielleicht ist das etwas übertrieben, aber ich misstraue Berichten, die Neutralität vorspielen. Weil ich faul bin (und ja schon für die ZEIT zahle) ist meine go to App für News eigentlich SRF. Aber in dieser Debatte traue ich SRF nicht mehr, mir scheint die Berichterstattung einseitig. Aber bewusst viele Kanäle zu konsultieren, die verschiedene Standpunkte vertreten, ist wahrscheinlich schon sehr sinnvoll. Die ständige Hin-und-Hergerissenheit muss man dann wohl aushalten.
«Pick me girls» von Sophie Passman habe ich auch gehört. Also ich war tatsächlich gerade dran, als du davon erzählt hast. Manchmal weiss ich nicht genau, ob ich gewisse Bücher diese Tage lese oder höre, weil ich Lust darauf habe oder damit ich mitreden kann. So wie man früher Germany’s next Topmodel schauen musste, um am nächsten Tag in der Schule mitreden zu können. Oder eben gerade laut herumerzählen, dass man es nicht gesehen hat, weil es oberflächlicher und sexistischer Mädchenkram ist und man da so was von drübersteht. Obwohl man es doch heimlich schaute, weil man es mochte. Das wäre dann die Vergangenheits Sophie Passmann Pick me Girl Variante. Ich mochte das Buch ziemlich. Wobei mögen vielleicht das falsche Wort ist. Sehr oft fand ich es unangenehm, aber ich denke, dass das eigentlich für eine Lektüre spricht. Das mit der Meinung stimmt, aber ist es nicht ein grundsätzlicher Fehler, das Buch als feministische Fachliteratur oder Ähnliches zu verstehen? Ich meinte, es läge im Buchladen bei den Sachbüchern. Doch eigentlich ist der Inhalt eine sehr kluge Frau, die ihr eigenes Leben anhand ihres Geschlechts reflektiert und dabei Schlüsse zieht, die auf alle Frauen zutreffen. Oder halt eben nicht. Aber ich mag Sophie Passmanns etwas polemischen Stil und besonders, dass sie sich nie entschuldigt. Sie weiss, dass sie weiss, reich und privilegiert ist. Die Leser:innen wissen das auch. Was brächte es also, dies noch auf jeder Seite zu erwähnen? Ich habe das Gefühl, es ist zur Mode geworden, sich im Vorhinein schon für alles zu entschuldigen, was man vergisst oder was sonst zu kritisieren sein könnte. Das ist feige. Schreib ein besseres Buch oder lass die Kritik den Kritiker:innen. Sophie Passmann schafft es oft, haarscharf am Zeitgeist vorbeizuschlittern. Das finde ich ein bisschen cool. Bei vielen spannenden Gedanken waren aber auch einige Wiedersprüche dabei. Es ist nicht klar, ob es laut ihr nun erstrebenswert oder verwerflich ist, eine langweilige Frau zu sein. Ich hatte das Gefühl zu spüren, dass sie oft Essays oder allgemein kürzere Texte schreibt. Es kam mir vor, als würden ihre Ideen eingeleitet, abgehandelt, zusammengefasst und dann ging sie zum nächsten Punkt. Der gesamte rote Faden schien etwas erzwungen. Zudem: Wann endet die Mode, dass erfolgreiche Frauen um die 30 unzählige Stunden in Therapie verbringen und dann die Erkenntnisse daraus in ein Buch kotzen?
Um das Thema, welches ich jetzt viel zu lange ausgeführt habe, abzuschliessen: Was macht es mit dir, wenn du folgenden Satz liest: "Zu frühes Glück in der Liebe macht wahrscheinlich unglaublich langweilig. Wenn ich Frauen um eine Sache bitten dürfte, dann, den Anfang ihrer Zwanziger nicht in der Belanglosigkeit einer heterosexuellen Beziehung zu verschwenden"(Es war so anstrengend, diesen Satz in seiner Vollständigkeit abzutippen. Ich musste zwanzig Mal zurück auf Spotify und weiss jetzt, wie sich weniger starke Schüler:innen im Deutsch in der Grundschule bei Diktaten gefühlt haben müssen. Horror.).
Ich frage auch im Bezug auf deinen wunderschönen Text für S., den ich nicht weiter kommentieren möchte, aber bewundere. Kannst du so eine Bemerkung einfach als die Meinung einer einzigen Frau wegstecken? Spürst du Widerstand? Zweifel? Oder im Gegenteil sogar Spott? Mich lässt es nicht komplett kalt, ich dachte kurz, mich "verteidigen" zu müssen. Danach empfand ich aber eher Stolz. Sophie Passmann hat viel. Ich habe etwas, was sie nicht hat. (Meine ich zu glauben) Das ist vielleicht auch doof, aber solche Aussagen deuten für mich zum Teil auf ein Unverständnis der Komplexität und Verbundenheit einer längeren (ich möchte nicht langjährig sagen, ich weiss nicht, ab wann das erlaubt ist) Beziehung hin.
Heute war ein komischer Tag. Bei der Arbeit habe ich mal wieder absolut gar nichts gemacht, was aber nicht ungewöhnlich ist. In den letzten Tagen bin ich zum Teil sehr früh aufgewacht, war aufgewühlt und konnte nicht mehr einschlafen. So auch heute. Ich war um halb 6 wach (das mag nicht so früh sein für Menschen mit einem richtigen Job mit Verpflichtungen, für mich aber schon, ausserdem bin ich so um 1 ins Bett), wollte in einer manischen Euphorie meine Wäsche machen, das ging nicht, weil ich dachte, das Waschsystem funktioniert erst ab 7, da man bei uns erst ab 7 waschen darf (Plot Twist, ich habe einfach immer noch nicht richtig gecheckt, wie es funktioniert). Ich glaube, es liegt an der Jahreszeit, Winterdepression ahoi. Ich pflanzte mich dann aufs Sofa, nachdem es auf der Dachterrasse zu kalt wurde und habe ein Gedicht verfasst. Eigentlich mag ich keine deutschen Gedichte, aber ist dann halt so passiert. Hier ist es, fresh from the Feder:
oktober sechsundzwanzig
morgens um sechs
einhüllende Dunkelheit
kein Schimmer Dämmerung
Niesel, Regen und Nebel
Das Rauschen der Autobahn
Die Stadt erwacht,
der Tag erwacht nicht,
ich schlaf nicht.
oktober sechsundzwanzig
zwei Monate, zehn Tage
noch immer keine Lampen
Die nutzlosen Schalter
ein leeres Ploppen im Dunkeln
Der Tag geht nicht an,
die Nacht nicht aus.
Oktober sechsundzwanzig
morgens um sieben
kein Schimmer Dämmerung
es werde nie wieder Licht
oktober sechsundzwanzig
sechsundzwanzig Kerzen
ausgeblasen von dir
Rauchschwaden im Schwarz
oktober sechsundzwanzig
du liegst in meinem Schoss
ich streichle deinen Kopf
ich bin sprachlos, du schlaflos
geteilte Last,
ist doppelte Last.
oktober sechsundzwanzig
Zwanzig nach sieben
Ein Schimmer Dämmerung
Ich glaube, das reicht so weit, da ist genug drin. Gerade ist meine Chefin vom Home Office zurückgekommen und ich kann nicht mehr unbeobachtet schreiben, sondern sitze mit einer unangenehmen Anspannung da und hoffe, dass sie mich nicht wieder fragt: "Was tippst du da so schnell?" Morgen habe ich ein Gespräch mit ihr, natürlich von mir in ihren Kalender eingetragen, lol. Letztes Wochenende war ich noch in Dijon (ja, das mit dem Senf, haha, lol, xd, mdr, da wohnen auch tatsächlich Leute, die nicht immer an Senf denken). Es war schön, vielleicht erzähl ich das nächste Mal davon.
Alles Liebe
Deine Vera
PS: Ich bin ehrlich gesagt froh, dass du meinen neuen Genderversuch nicht so gut fandest. Wie du siehst, bin ich jetzt auch wieder sprachpuristisch unterwegs.
PPS: Ich freu mich für dich, dass du dich so auf das Taylor Swift Konzert freust. Vorfreude ist eben wirklich die schönste Freude. Diese sprichwörtliche Ansicht teile ich sehr. Ich bin aber auch etwas neidisch, da es mir selten gelingt, Dinge über eine längere Zeit so richtig zu hypen. Ich weiss nicht, wieso. Und habe länger nicht mehr so krasse Vorfreude verspürt, wie zum Beispiel "früher" vor den Sommerlagern. Aber jetzt keine bad Vibes mehr hier. Go Swifties, den Film gönne ich mir glaub auch.
PPPS: Das Heiratsding liegt nicht am Mamma-Mia-Effekt. Tatsächlich war ich erstaunt, wie Griechenland besonders landschaftlich ähnlich aussieht wie andere Orte am Mittelmehr auch (z.B die Inseln des toskanischen Archipels (gegoogelt) oder Korsika). Es hat auch nicht überall weisse Häuser. Ausserdem sind auf meiner Ich-möchte-hier-heiraten-Liste noch folgende Orte: Avignon, in der Nähe von Ravello (an der Amalfiküste)
PS4: Mir sind nur schlechte Witze dazu eingefallen…
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