Liebe Michelle
- Vera Rieger
- 9. Apr. 2024
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 14. Mai 2024
Danke für deinen Kater- und Katzenbrief. Ich wollte dir eigentlich raten, dass du beim Katzenhaus kündigen sollst, da es sich für mich nicht gut anhört, wenn ein Job Gym-Nostalgie hervorruft. Aber dann habe ich gemerkt, dass ich die falsche Person bin für Kündigungsvorschläge. Diese erteile ich schnell. Ich hatte schon sehr viele kleine Jobs, aber keinen wirklich lange oder regelmässig, der längste etwas mehr als ein Jahr. Zum Teil machte mir Corona einen Strich durch die Rechung oder ich kündigte aus ethischen Gründen (Nachhilfeinstitut) oder ich zog um oder was auch immer. Ich sage es ehrlich, das würde ich heute nicht mehr tun, mein moralischer Kompass ist da etwas flackernder geworden.
Meine längste Anstellung war eigentlich ein Nachhilfeschüler, den ich zweieinhalb Jahre lang betreute (ich weiss nicht, ob das für meine pädagogischen Fähigkeiten spricht, ich glaube, er mochte mich einfach). Das mag jetzt nicht wie ein fester Job klingen, aber es war so ultragut bezahlt, dass es eben doch als Job gelten muss. Für ihn stand ich regelmässig am Samstagmorgen von irgeneiner Couch oder irgendeinem Bett irgendwo in der Schweiz (meistens Basel oder Liestal) früh auf, um halb-verkatert und stinkend den 8:30 Uhr Zug nach Zürich zu nehmen. Ich habe nie etwas vorbereiten müssen, wir machten Lesetraining mit Comics und Diktate für seine Lese- und Rechtschreibschwäche. Am Schluss spielten wir je noch ein Kahoot. Ich habe Methoden erfunden für die Wanderdiktate, und er lachte mich aus, als ich nicht wusste, wie der Fluss in München heisst (Isar - was gelernt). Seine Mutter war trotz meines minimalen Aufwands sehr glücklich mit mir. Da er mir stets von seinen krassen neuen Schuhen, den Amerikaferien mit NFL-Spielbesuch oder sonst irgendetwas erzählte, musste ich kein schlechtes Gewissen haben, dass ich für 90 Minuten im knapp dreistelligen Bereich bezahlt wurde. Das war sicher der bestbezahlte und chilligste Job, den ich in meinem Leben je gehabt haben werde. Er war aber wirklich süss, schon etwas verzogen, aber es war ihm bewusst, dass er viel Geld hatte. Hach, ich vermisse das Züri-Gold. Und ihn vermisse ich auch etwas, ich hoffe, dass wir uns irgendwann im Leben wiedersehen werden. Vielleicht so an einem Festival oder wenn er auf einer Bank als Consultant arbeitet und ich lost bin und Hilfe brauche.
Davon wollte ich gar nicht schreiben, ich kam gerade in einen Rausch. Ich möchte auf deine Gedanken über Freundschaft eingehen. Ich glaube, dass es einen Grund gibt, dass du "keine" Freunde ausserhalb unserer Freundesgruppe hast. Du besitzt nämlich die wahnsinnige Kraft, Menschen zusammenzubringen. Wenn du dir diese Gymi-Gruppe anschaust, welche du erwähnst hast, besteht sie aus deinen Pfadifreund:innen, deinen Sekfreund:innen und deiner Gymifreund:in. Daraus ist jetzt ein Knäuel mit neuen Fäden entstanden und wie in jeder Gruppe haben auch andere Leute ihre Freunde in die Gruppe gebracht und es wurde neu durchgemischt. Aber ich habe schon öfters mit Leuten besprochen, dass du diese Macht besitzt, die unterschiedlichen Menschen um dich zu "scheren". Das erklärt auch, dass sich an deinem Geburtstag alle kennen. Ich glaube deine Einladung an mich an diese Party in Zürich von deiner Verlagsfreundin ist ein gutes Beispiel dafür (Grüsse gehen raus an dieser Stelle). Es heisst nicht, dass ich nicht kommen möchte, aber es zeigt, wie du unterschiedliche Menschen miteinander bekannt machst. Ich hoffe, ich bin dir jetzt nicht zu nahe getreten mit dieser vielleicht unangebrachten Psychoanalyse. Ich sehe es als eine Stärke, die ich bewundere. Über dein Handballteam als neues soziales Umfeld haben wir ja schon gesprochen.
Ich habe nicht unbedingt das Bedürfnis neue Leute kennenzulernen, muss mich aber auch anstrengen, gewisse Kontakte zu pflegen. Es gibt Leute, bei denen ich weiss, dass ich gerne mit ihnen Zeit verbringe und es lustig ist - Zürifriends, aber nicht nur, die ich aber nicht einfach so sehe. Der Aufwand lohnt sich dann aber meistens. Aber auch bei Freunden innerhalb der Gruppe, die jetzt verteilt sind, finde ich es schwierig, sich regelmässig zu sehen. Manchmal frage ich mich, wie ich Freundschaften leben würde, wenn ich nicht in einer Beziehung wäre. Ich glaube nochmals sehr viel intensiver, ich hätte ein grösseres Bedürfnis nach einem täglichen Austausch, vielleicht? I don't know. Das finde ich schwierig einzuschätzen.
So, es ist schon spät. Eigentlich wollte ich diesen Brief gestern verkatert schreiben. Ich war letzte Woche im Pfadi-Ausbildungskurs kochen und hatte das Ziel, beim Kursabschluss so viel zu trinken, dass ich dir auch verkatert schreiben kann. Leider hat das nicht ganz geklappt, irgenwann bin ich nach 3 Bier müde nach hause gegangen. Jetzt kommt ein Hot Take: ich hatte noch nie so einen richtig schlimmen Kater. Vielleicht liegt es daran, dass ich Team Aspirin bin, weil ich nicht einsehe, warum man sich aus Prinzip selbst mit Kopfschmerzen quälen muss nach dem Feiern. Wieso sollte ich mich bestrafen dafür, Spass gehabt zu haben? Das ist ein komischer Akt der Selbstkasteiung, den ich nicht verstehe (Seitenhieb an deinen Freund und andere ...). Gleichtzeitig mag ich es, verkatert zu sein, da es sich für mich etwas anfühlt wie ein körperlicher Reset. Alles wird einmal durchgeschüttelt und dann sanft wieder hochgefahren. Im Kater lag bei mir oft eine gewisse Ruhe und Gefasstheit, die ich sonst nicht fand.
Jetzt doch noch schnell ein paar Worte zum Kurs. Es war schön. Die Teilnehmenden waren leider etwas unmotiviert, weswegen der typische Hype ausfiel, das war schade. Aber wir verbrachten in der Küche viel Zeit mit Lachen und Jassen und ab und zu ging ich in den schönen Bündner Bergen joggen. Das ist wirklich ein To-do. F.'s ehemaliger Mitbewohner war auch da. Ich kenne ihn schon fast 6 Jahre, in denen er immer mit F. zusammengewohnt hatte und trotzdem haben wir noch nie wirklich etwas zusammen unternommen. Innerhalb dieses Kurses mal richtig Zeit miteinander zu verbringen war voll schön. Er hat jetzt einen richtigen Job mit Geschäftsreise nach New York und so. Allgemein trafen in unserem Küchenteam sehr viele unterschiedliche Lebensrealitäten aufeinander.
Das ist übrigens auch noch so ein Punkt, was die sozialen Kontakte angeht. Viele soziale Kontakte habe ich über meinen Freund. Gibt es Leute aus S. Umfeld, die du deine Freund:innen nennen würdest? Mit der WG war das bei mir schon immer Thema, oder halt auch Familie. Noch mal ein anderes, viel verstrickteres Feld für sich.
Ich glaube, das wars. Kurz noch News: Ich habe heute zum ersten Mal Medikinet genommen, habe aber noch keine wirkliche Auswirkug gespürt, meine Stimmungskurve war so wie oft in letzter Zeit: morgens und nachmittags leicht gestresst, angespannt und unkonzentriert und abends ausgelassener und sorgloser. Ich gebe dir aber ein Update in 2 Wochen. Leider sind meine Schlafstörungen, die im Kurs in den Ferien waren, wieder zurück. Aber ich habe heute Nacht einen Trick gefunden, deswegen gleich zu den Rubriken:
Etwas zum Hören: Max Richter für (oder gegen) schlaflose Nächte oder sonstige Flows.
Etwas zum Glotzen: One Tree Hill, die dritte Serie, die ich und F. gemeinsam schauen nach Friends und Modern Family (wir sind sehr langsam)
Etwas zum Lesen: Ich habe erst gerde angefangen, muss aber Joel Dicker endlich mal eine Chance geben. Ich habe ihn gesehen an der Buchmesse in Genf, uuu. "Das Geheimniss von Zimmer 622"
Etwas zum Essen: Nach einer Woche Kochen habe ich keine Lust mehr auf Essen. Aber das Beste, was wir gekocht haben, waren glaub selbstgemachte Dumplings oder Frühlingsrollen. Irgendetwas Eingerolltes in Teig halt.
Okay bye. Ich freue mich ganz doll auf deinen nächsten Brief, da ich schon weiss, von was du schreiben wirst und dass es ganz schön werden wird.
Alles Liebe.
Vera
PS: Es ist einfach Sommer WTF? Aber es riecht so gut, ich sterbe. Diese Frühlingsdufteuphorie hält mich am Leben.
PS2: Am Mittwoch bin ich an einen ersten Geburtstag eingeladen. Omg.



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