Liebe Michelle
- Vera Rieger
- 22. Apr. 2024
- 5 Min. Lesezeit
Ich habe ein Geheimnis gelüftet. Wenn ich morgens aus dem Haus gehe und teif eintame, die Blumendütfe in meine Nase strömen und sich die Frühlingsfrische auf meine Haut legt: Dann fühle ich mich zurückgesetzt in die Jahre, als ich noch bei meinen Eltern wohnte. Dieses bestimmte Gefühl hatte ich seit dann nicht mehr. Deswegen weiss ich jetzt: in Basel riecht der Frühling anders als in Zürich. Die Juraluft ist sanfter als die Voralpenbrise. Nun weiss ich ja schon, dass du diese Gedanken für Hirngespinste hältst, da ich auch behaupte, dass ich anhand vom Licht erkenne, ob ich in Zürich oder Basel bin. Ich bin aber überzeugt. Ich habe sehr sensible Geruchsrezeptoren und auch meine Retina kennt sich gut aus mit dem Einfangen von Stimmungen.
Apropos Frühling und all das: Hallo April. Ich muss es hier glaub nicht noch erwähnen, da die sozialen Medien voll davon sind, aber der April wird seinem Ruf ja mal so richtig gerecht. Gerade sitze ich auf unserer Dachterasse, kann von hier aus Schnee sehen auf den Juraketten und meine Hände frieren. Beim Verfassen von meinem letzten Brief hatte es um die 20 Grad. Ich finde es aber gerade voll okay. Es wird noch genug früh wieder warm werden. Langsam aber sicher ist Verlass auf den Klimwandel. (Ich habe kalt, ich muss rein)
An dieser Stelle gibt es eine kleine Portion Schimpfis von mir, dass du den Brief letzte Woche ausgelassen hast! Ich bin natürlich nicht wirklich böse und weiss, dass du viel zu tun hattest mit Uni etc. Aber ich würde mir auch wünschen, dass du streng bist, deswegen bin ich es auch ;) Ich schreibe diese Woche trotzdem, da ich mich an diesen Rhythmus halten muss, um mich selbst ernst zu nehmen. Wie ich auch schon erwähnt habe, fällt es mir oft schwer, an Dingen dranzubleiben. Ich muss mir einreden, dass es wichtig ist, dass ich schreibe. Und für unsere treuen Leser:innen, von denen doch einige wiederkehren, was mich unglaublich freut :)
Nun zum eigentlichen Inhalt. Ich will über das Aufgeben von Träumen schreiben. Heute habe ich mich für die PH angemeldet, um Seklehrerin zu werden. Diese Entscheidung habe ich jetzt länger abgewogen, aber vielleicht ist es trotzdem eine Zweitwahl, da ich nicht genau weiss, was meine Erstwahl ist. Lange wollte ich Sängerin werden. Das habe ich schon auf ein Blatt geschrieben, dass ich Anfang Sekundarschule, mit 11 Jahren, ausfüllen musste. Damals hatte ich noch keine genaue Vorstellung davon und noch nicht einmal Gesangsunterricht. Aber der Wunsch war da. Als ich mich dann für den klassischen Gesang zu begeistern begann, wuchs langsam der Wunsch nach einem Beruf in diesem Feld. Lange wusste ich aber nicht, ob ich dafür genug gut sein werde. Mit der Aufnahme an der Hochschule war klar: ich will Opernsängerin werden. Nun verlief es aber nicht so, wie ich mir das erwünschte, ich konnte oft den Ansprüchen im Gesang nicht genügen und dann auch nach dem Bachelor nicht weitermachen. Oder wollte auch nicht so recht. Und irgendwann in den letzten knapp 2 Jahren hat sich dieser Traum aufgelöst. Er ist nicht geplatzt, eher ist die Luft langsam rausgegangen, bis der Ballon irgendwo auf dem Boden herumlag. Ich dachte: Wenn ich es nicht ganz nach oben schaffe, dann will es gar nicht und suche etwas anderes. Nun bin ich nicht sicher, ob ich mir immer noch eine Oper anschauen kann. Denn früher sporrnte es mich an, zu denken: da will ich auch hin. Und jetzt ist es klar, dass ich da nie sein werde. Es ist vielleicht komplex, diese ganze Szene und die Möglichkeiten zu beschreiben für Leute, die gar nichts damit zu tun haben. Ich sprach auch nie besonders viel davon. Fest steht, dass ich mich weit davon entfernt habe. Ich möchte immer noch singen und mich weiterentwickeln, aber nicht mehr karrierefokusiert. Die Liebe zu dieser Musik bleibt, sie bringt mich oft zum Weinen und Lachen, berührt mich wie keine andere.
Dann wollte ich ja irgendwie ins Theater, am liebsten in die Regie, um doch noch jemand zu werden. Hauptsache etwas werden, oder. In der Schule kann man nichts werden, was will ich da. Ich musste aber mit erschrecken feststellen, dass die Sonderschule für mich ein viel inspirierenderes Umfeld war als das Theater. Ich habe ein Jahr an einer Schule gearbeitet, um zu entscheiden, dass ich nicht Lehrerin werden möchte und jetzt werde ich es trotzdem, lol.
Aber immer wie mehr freue ich mich. Denn ich weiss, dass ich das gut kann. Ich stelle mir immer wieder vor, was ich alles mit den Schüler:innen machen könnte und das erweckt viel Kreativität in mir. Und es gibt Geld und finanzielle Sicherheit. Meine Vorstellung von mir als Bohemian-Girly, dass aus Leidenschaft unglaublich viel arbeitet, aber wenig verdient, dafür in der Welt herumreist, um ihren Traum zu verwirklichen und das bis sie 80 ist oder sonst tot umfällt, gleichzeitig aber noch eine Familie hat, natürlich, aber alles cool, alles artsy, niemals 9 to 5, immer gerade so über die Runden kommen, denn mehr brauche ich nicht. Von dieser Vorstellung kann ich mich langsam lösen. Ich bin sicherlich spiessiger, als ich mir das jemals gedacht hätte, aber es hat auch seine Vorteile. Ich habe keine Lust, jeden Rappen umdrehen zu müssen, überlegen zu müssen, ob ich zum Coiffeur gehe oder nicht. Das grosse Privileg, jetzt noch eine Ausbildung machen zu können, die mir erlaubt, danach anständig zu verdienen und trotzdem noch viel Ferien zu haben, nehme ich jetzt an. Ich weiss, dass es eine positive Entscheidung sein muss, da es kein Beruf ist, den man «halbpatzig» machen kann. Die Bühne und die Kunst werden aber trotzdem irgendwie bleiben. Denn der Drang der Selbstverwirklichung und die Freude am Kreieren und Erzählen lassen sich leider nicht ersticken.
Daran anschliessend möchte ich sagen: Ich habe gemerkt, dass ich viel Sexismus internalisiert habe, was dieses Thema angeht. Der Entscheid, einen Master als Seklehrerin zu machen, beruht auch darauf, dass es gerade Sinn macht mit meinem Curriculum, ich kann viel "mitnehmen". Eine Zeit lang habe ich aber auch abgewogen, Primarlehrerin zu werden. Ich merkte, dass ich diesen Beruf als Frauenberuf abwerte. Ich wollte nicht eins dieser "PH-Mädchen" sein, ich fühlte mich zu "Höherem" berufen. Es ist ein Beruf, der extrem viel von einem abverlangt und alles andere als einfach ist. Aber in der Gesellschaft wird er trotzdem sehr belächelt, scheint mir. Vielleicht auch, weil es keine direkten Aufstiegsmöglichkeiten gibt und deswegen nicht dem Ideal unserer kapitalistischen Leistungsgesellschaft entspricht. In diesen Denkmustern bin ich auch gefangen. Es fällt mir schwer, da auszubrechen. Ich kann wirklich gut mit Kindern umgehen, habe das aber nie als tatsächliche Stärke von mir gesehen. Soziale Fähigkeiten werden nicht als solche angesehen. Dies liegt sicherlich auch daran, dass sie eben oft weiblich konnotiert sind. Gewisse Vorstellungen sitzen zu tief. Jetzt in diesem Moment finde ich Frauen, die Primarlehrerinnen sind, langweiliger als Männer, die in irgendeiner IT-Firma arbeiten. Ich muss daran arbeiten, mein Werteraster zu erneuern.
Nun zu den Kategorien:
Etwas zum Lesen: Mein Verhältnis zur Lektüre ist immer noch problematisch zurzeit, aber ich würde hier gerne mal meine Lieblingsautorin empfehlen: Elena Ferrante. Ich habe sie nicht durch "l'amica geniale" kennenglernt und finde auch die anderen Bücher sehr lesenswert. Der Hype ist aber berechtigt. Ich kann richtig eintauchen in die Bücher und der Süden zieht mich auch an. Für eine Theatervorstellung von "l'amica geniale" bin ich letzten Herbst extra nach Hamburg gefahren.
Etwas zum Hören: Du würdest mich glaub köpfen, wenn ich hier nicht das neue Doppelalbum von Taylor nennen würde, ich freue mich auf deinen Hype! & da ich am Konzert war und es sehr schön war, wenn auch kitschig: "Flügendi Insle" von Troubas Kater.
Etwas zum Glotzen: "Antigone" am Theater Basel. Ja, weil ich da mitmischle im Chor. Noch zwei Mal diese Spielzeit, sehr toll, du warst ja schon da, aber Tipp für alle anderen.
Etwas zum Essen: Selbstgemachte Ravioli, gefüllt mit Ricotta an Butter-Salbei Sauce. Mmmhhhhh.
Meine Woche war übrigens gut. Plözlich ist alles irgendwie okay und man weiss selbst nicht genau warum, da sich nichts ändert. Ich hatte viele Momente inneren Friedens, vielleicht ist es auch erfolgreiches Verdrängen. Aber egal. Jetz will ich einfach wieder träumen. Mein Traumtagebuch wartet.
I am looking forward to reading you!
Alles liebe
Vera



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