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Liebe Michelle

  • Vera Rieger
  • 2. Sept. 2024
  • 5 Min. Lesezeit

Ich hoffe, es geht dir gut. Zuerst einmal: Herzliche Gratulation zu deinem Aufstieg ins bessere Team eures Handballvereins! Ich freue mich sehr für dich. Es ist viel passiert in letzter Zeit und ich weiss, dass du immer noch am Verarbeiten bist. Ich merke, wie ich versucht bin, in Floskeln zu verfallen. Denn das Schönste und Tragischte im Leben ist wirklich oft nahe beieinander. 

 

Ich habe lange überlegt, ob ich auf deinen Brief von letzter Woche eingehen soll, ob ich über den Vorfall allgemein schreiben darf. Denn ein Suizid im persönlichen Umfeld ist etwas vom Schlimmsten, was es gibt. Im Übrigen ist es wissenschaftlich bewiesen, dass der Werther-Effekt real ist und ich habe keine Kontrolle, wer das liest. Aber ich habe mich dazu entschieden, nicht zu schweigen. Diesen Safe Space, den ich glaube hier mit anderen zu teilen, zu nutzen. Ich bin in einer anderen Rolle als du und habe M. nicht persönlich gekannt. Trotzdem hat es sehr viel in mir ausgelöst, verschiedenste Gefühle, gewisse, die ich auch nicht direkt mit dir teilen wollte, da ich wusste, dass sie in der aktuellen Situation nichts bringen oder gar unangebracht sind. Zusammengefasst kann ich es als Frust beschreiben. Die Frust, dass er die Chance zu heilen nicht bekam. Denn jeder Mensch verdient diese. Letzten Winter ging es mir sehr schlecht. Ich war nicht suizidgefährdet, aber da war teils eine Hoffnungslosigkeit und eine Furcht, dass es niemals besser wird. Das kann ich nachvollziehen. Was dann? Aber es wird eben besser. Es wird immer besser, wenn es auch viel Arbeit ist und ich hoffe, das niemals zu vergessen und allen mitgeben zu können. Wir haben beide Brüdern im gleichem Alter, einem ähnlichen Umfeld und Lebenssituation. Logisch, dass wir gleich begonnen haben, zu projizieren. Es ist unvorstellbar schlimm. 

 

Da ich mich nicht in einem Trauerprozess befinde, beschäftigten mich dann aber vor allem die Fragen, wie ich meinen Umgang mit Freund:innen und Familie verbessern kann, für sie besser da sein kann und Alarmzeichen zu deuten vermag. Darin bin ich nicht immer gut. Ich glaube, dass es wichtig ist, sich zu trauen, auch mal aufdringlich zu sein. Wiederholt nachfragen, immer wieder anrufen, einfach da sein, aber manchmal bedeutet da sein, nicht nur da sein, sondern sich sehr laut bemerkbar zu machen. Denn wir reden in unserer Bubble viel von boundaries oder triggers, aber es gibt Momente, wo boundaries auch übertreten werden müssen. Manchmal weiss man selbst nicht mehr, was für einen gerade am Besten ist. Das meine ich auch allgemein, auf viele Lebenssituationen anwendbar. Und wenn man da Freunde hat, die einen auf den Boden der Tatsachen zurückbringen können, einem auch mal eine Entscheidung abnehmen, einfach das Zepter in die Hand nehmen und das Schiff kurz für einen lenken können, dann ist das Gold wert. Ich möchte versuchen, das mehr zu tun. Ich möchte versuchen, wenn mir Sorgen mache, auch bei weniger nahen Freunden einmal mehr nachzufragen, wie es wirklich geht, ohne die Angst, einen wunden Punkt zu treffen oder ihnen zu nahe zu treten. Wir sollten mehr über Dinge sprechen, auch wenn es verletzend sein kann. Vor der Grausamkeit des Lebens können wir uns sowieso nicht retten, aber es zusammen vielleicht ein bisschen erträglicher machen. Ich hoffe, du weisst, dass ich damit nicht sagen möchte, dass irgendetwas hätte verhindert werden können und dass ich schon gar nicht Menschen, die ich flüchtig kenne, Vorwürfe machen würde. Was wirklich im innern eines Menschen vorgeht, bleibt für die Aussenwelt für immer verschleiert. Ich denke an sein trauerndes Umfeld und wünsche Ihnen nur das beste und sehr viel Kraft. Worte sind mächtig, das merke ich jetzt gerade, es ist unglaublich schwer, über dieses Thema zu schreiben. Ich begebe mich auf dünnem Eis. 

 

Nun aber zu den schönen Dinge, die ich schon angekündigt habe. Wir haben letztes Wochenende das 100-Jahr Jubiläum unserer Pfadi gefeiert. Dies war übrigens schon auf meiner Freu-Liste für 2o24, auch wenn ich da noch nicht wusste, dass ich es planen würde. Es hat mir wirklich sehr gut getan, wieder einmal diese Art der Verantwortung zu haben und zu sehen, wie eigene Visionen umgesetzt werden. Ich konnte sogar meine Ideen, die nicht so funktioniert haben, wie ich es mir vorgestellt habe, irgendwann gehen lassen. Und geniessen. Darin bin ich nicht so mega gut. Aber es war so ein schöner Tag, so viele Menschen, die mir unendlich wichtig sind, waren da und irgendwie war es cool zu sehen, was man mit seinen Freund:innen so auf die Beine stellen kann, denn das war es schliesslich auch ein bisschen. Meine Freund:innen sind sehr cool. So ganz aus dem Arbeitsmodus heraus kam ich nicht, aber das ist auch okay. Das mühsame Abräumen am nächsten Tag hätte nicht sein müssen und dass ich danach zwei Mal nacheinander nach Uster und zurück fahren musste auch nicht. Beim ersten Mal hatte ich Gewichte vergessen, die ich noch in Liestal hätte abolen müssen, und dies erst in Uster gemerkt, lol. Konnte ich dann gleich bei der Verhaltenstherapie danach ansprechen :=) 

 

Morgen gehe ich in ein Lager mit Sekschüler:innen mit, ich freue mich sehr. Danach lasse ich noch ein paar Tage den Sommer ausklingen in der Normandie, good life, oder? Gerade koste ich den Spätsommer sowieso gerade voll aus mit fast täglichen Bädern im Rhein. Heute sind wir auf dem Velo im Badzeug durch den Gewitterregen nach Hause gefahren. Das war die beste Lösung und hat sich ziemlich jung angefühlt. Gerade blitzt es immer noch extrem stark und der Donner lässt unseren ganzen Block erschüttern. Spätsommer bedeutet aber auch die schnellste Verkürzung der Tage, ich mag den Gedanken an den Herbst nicht, das Früherwachen schleicht sich bei mir wieder ein, ein Symptom meiner Schlafstörung. Das lässt mich schaudern. Urgh. Doch gerade geniesse ich noch. 

 

Okay, da war einiges, nun noch die Kategorien. 

 

Etwas zum Glotzen: Die Blitze des Gewitter. 

 

Etwas zum Hören: Du musst noch meine Frage von letzter Woche beantworten. 

 

Etwas zum Lesen: Ich habe tomorrow and tomorrow and tomorrow von Gabrielle Zevin von deiner Mitbewohnerin ausgeliehen und mag es bisher so sehr. Es hat mir Lust gemacht auf ein grosses Projekt. 

 

Etwas zum Essen: Letzte Woche habe ich meine ehemalige Mitbewohnerin seit einem Jahr wieder gesehen, das war sehr schön, ein bisschen so, als wären es nur ein paar Wochen gewesen. Denn es war wie immer: ein Mischmasch aus Menschen und Sprachen, Italienisch-Englisch-Deutsch, nach dem köstlichen Essen spielten wir ein Spiel. Es gibt ein Rezept, Pasta mit Cherry Tomaten, das von ihr so gut schmeckt und ich nie gleich gut hinbekommen hatte, auch wenn ich es für andere gekocht habe, war es enttäuschend. Aber in der letzten Woche habe ich es zwei Mal geschafft, dass es gut schmeckte. (Geheimtipp: Olivenöl aus dem Glas von getrockneten Tomaten) 

Deswegen: Pasta alla Claire! 

 

Wort der Woche: Winterangst. 

 

Ganz viel Liebe 

 

Vera  

 

 
 
 

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