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Liebe Michelle

  • Vera Rieger
  • 29. Sept. 2024
  • 5 Min. Lesezeit

Das ist der erste Brief, den ich auf meinem neuen MacBook schreibe. Was für ein neues Lebensgefühl, ein unverschmutzter Bildschirm, eine funktionierende Rechtschreibekorrektur, die smoothen Tasten! Du weisst schon, wie sehr ich diese neue Anschaffung hype. Ich traue mich fast nicht, das zu sagen, aber es fühlt sich schon ein bisschen wie verliebt sein an. Wenn ich daran denke, weckt dies Glücksgefühle in mir. Wahrscheinlich problematisch, wahrscheinlich aber auch einfach Zeitgeist, ich bin eben auch nur ein Konsumkind.


Es tut mir leid, zu hören, dass dein Semesterstart ziemlich harzig war. Mir geht es gerade gut. Ich bin einfach in jedem Moment froh, dass ich nicht da bin, wo ich vor einem Jahr war, sondern einen Plan und eine klare Struktur habe (und kein Scheisspraktikum). (und als ich auch dachte, meine Probleme liessen sich mit einem Buzzcut lösen, ich liebe Haare) Ich hoffe, es werden sich dir auch bald neue Türen öffnen und du kannst die Scheissjobs hinter dir lassen. Für mich hat es leider nur Vorteile, dass du dieses Jahr nicht mehr im Praktikum bist, denn so sehe ich dich mehr und das schätze ich sehr gegenüber dem letzten Herbst :)


Heute will ich über zwei Dinge berichten. Herbstfomo und Klassenzimmererfahrungen. Ich habe nämlich die heftigste Herbstfomo, besonders kulinarisch. Im Sommer reicht es mir, mit oder ohne Buch oder Bier in der Sonne zu liegen. Dann ein bisschen Tomaten und Melonen essen. So habe ich den Sommer schon ausgenutzt. Im Herbst habe ich immer das Gefühl, ich müsse fünfzig Dinge machen, um die Jahreszeit wirklich auszukosten. Das stresst voll. Der Herbst ist in jeder Hinsicht so eine produktive Zeit, dazu kommt, dass er superkurz ist. Beginnt eigentlich erst Mitte September und geht nur bis zum 1. Dezember, denn dann ist Adventszeit und die ist etwas für sich. Weihnachten klaut dem Herbst fast einen ganzen Monat. Hier also eine Liste der Dinge, die ich jedes Jahr meine, im Herbst alle machen zu müssen:


  • Kürbissuppe kochen, Kürbisrisotto und am besten noch Kürbispasta.

  • Pumpkin Spice Latte selber machen…

  • Pilze sammeln gehen, endlich mal Pilzkennerin werden (lade jedes Jahr eine neue Pilzeapp herunter) und dann:

  • Pilzschnitten und Pilzrisotto kochen.

  • Wie wär’s dann mal mit einem Hirsch- oder Rehpfeffer mit Rotkraut, so einmal im Jahr?

  • Eine schöne Wanderung durch Herbstwälder oder noch besser verfärbte Rebberge unternehmen. (An den zwei Tagen, an denen die Sonne scheint.)

  • Ins Tessin fahren, um Marroni zu sammeln und dann:

  • Glasierte Marroni kochen, oder sogar selbst Vermicelle machen. (mag ich nicht mal)

  • Blätter pressen, um sie dann aufzuhängen.

  • Kastanienmännchen oder Weihnachtsschmuck aus Wald bauen.

  • Stirnband, Handschuhe, Socken oder endlich einen Pullover stricken.

  • Wieder mehr ins Kino, Theater, Konzert gehen.


Nun nehme ich mir vor, diese Dinge dieses Jahr alle erst recht nicht zu tun, es reicht, dass ich sie hier aufgeschrieben habe. Ausserdem habe ich gemerkt, dass ich das Gegenteil des Sich-Zuhause-mit-Kerzen-Einkuscheln-Typ bin. Je kürzer die Tage werden, desto mehr muss ich auch abends raus, um meine Winterdepression so fern wie möglich zu halten. Das Rugby hilft mir momentan dabei. Ich weiss, dass du dir schon lange einen Rugby-Brief wünschst. Leider haben wir diese Saison noch nie gewonnen und ich konnte auch noch nicht so viel spielen. Es gab trotzdem schon schöne Momente. Aber ich nehme mir vor, nächstes Mal davon zu erzählen, versprochen. Nun zum zweiten Thema.


Diese Woche hörte ich Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten von Alice Hasters. Ich bin spät damit dran, ich weiss. Einige Thesen, so scheint es mir, wurden in den letzten Jahren seit der Erscheinung des Buches sehr stark medial diskutiert und waren deswegen nicht unbedingt neu für mich, aber besonders der ausführliche historische Teil über Deutschlands koloniale Vergangenheit und wie dafür Rassismus konstruiert oder instrumentalisiert wurde, war sehr spannend. Ich fand im Buch selbst auch Widersprüche, aber die sind meiner Meinung nach bei einem so komplizierten Thema unumgänglich. Es ist ausserdem sehr einfach geschrieben und deswegen sehr zugänglich, das mochte ich.

Für mich als angehende Pädagogin war das Kapitel über Rassismus im Schulsystem am prägendsten.


Ich finde, dass Sensibilisierungsworkshops zu Anti-Rassismus für Lehrkräfte unumgänglich sein sollten. Denn es gibt ein grosses Machtgefälle diesbezüglich: Mindestens 50 Prozent der Su*S (Ja, ich bin jetzt Lehrerin und benutzte dieses verpönte Kürzel, aber weil ich cool bin mit Sternchen) der obligatorischen Schulzeit haben Migrationshintergrund oder sind nicht-weiss (nicht zu verwechseln). Laut Bundesamt für Statistik liegt der Ausländer:innenanteil bei 28%, aber ein Schweizer Pass bedingt noch nicht, dass die unterrichtsführende Person die Individuen auch als das sieht. Von den Lehrpersonen ist aber eine sehr grosse Mehrheit weiss und die meisten Deutsch oder Schweizer:innen. Wie möchte also eine so nicht-repräsentative Gruppe von Menschen eine Gesamtheit an Schüler:innen fair bewerten? Ich empfinde dieses Ungleichgewicht oft als unangenehm, vielleicht auch weil ich so krass ins Schema passe: weiss, Schweizerin, Bildungshintergrund.


Nun möchte ich dir gern noch eine Anekdote von letzter Woche erzählen. Ich habe die ganze Woche eine A-Klasse (tiefstes Niveau) unterrichtet. Es gab in der Klasse eine Schülerin, die klar am leistungsstärksten war, ausserdem arbeitete sie sehr fleissig und war motiviert. Am Mittwoch fragte ich die Heilpädagogin, ob die Schülerin nicht in den E-Zug könne, da sie den anderen schulisch überlegen ist. Sie erzählte mir, dass sie eigentlich aus der Kleinklasse käme. Sie hätte letztes Jahr unbedingt ins E aufsteigen wollen, die Lehrerschaft sei aber kritisch gewesen und es hatte sich Ende Schuljahr notenmässig bestätigt, dass sie es nicht geschafft hätte. Ja, aber wer gibt denn die Noten? Sie ist die einzig schwarze Schülerin der Klasse. Ich habe Hasters erst danach gehört und vermute nun vielleicht überschnell einen rassistischen Hintergrund. Aber genau diesen Effekt beschreibt sie sehr eindrücklich. Wenn von einer Schülerin weniger erwartet wird, leistet sie auch weniger. Das ist ein grosses Problem, da dies eben oft Su*S mit Migrationshintergrund betrifft. Und Notengebungen sind sowieso nie fair, wenn Lehrpersonen also denken, jemand wird es nicht schaffen, können sie das sehr einfach zeigen. Im Nachhinein macht mich die Situation fast etwas wütend, es kann auch gut sein, dass ich mich reinsteigere. Aber wieso scheint sich das Mädchen so krass beweisen zu müssen?


Noch eine andere Anekdote aus der Schule: Die eine Heilpädagogin belehrte ein ukrainisches Mädchen damit, dass sie nicht ‘Fresse’ (untereinander, nicht ihr gegenüber) sagen soll, da dies ‘Gassensprache’ und ihr ‘unwürdig’ sei. In diesem Sinne kann ich nur sagen, halt du die Fresse! Ich fand das echt problematisch. Meine grösste Schwäche als Lehrperson ist meine Arroganz. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich etwas Besseres bin als die Su*S, aber dass ich es besser mache als viele Lehrpersonen, da ich nicht denke, dass ich etwas Besseres sei als die Su*S. Viele denken das. Das merkt man und das finde ich schwierig. Vielleicht kann ich das gleich für mein nächstes Reflexionsseminar an der PH brauchen. Davon habe ich leider diese Woche keine Geschichten, da ich ja nicht dort, sondern ‘krank’ war;)

 

In diesem Sinne also zu den Kategorien:


Etwas zum Essen: Eisentabletten. Ich wollte Blutspenden gehen, durfte aber nicht, da ich zu tiefe Hämoglobinwerte hatte. Hängt irgendwie mit dem Eisen zusammen.


Etwas zum Glotzen: Crossing, sehr schöner Film, gerade im Kino, aber braucht Geduld. (& macht Lust auf Istanbul)


Etwas zum Hören: Da mir gerade kein Lied in den Sinn kommt, nehme ich das Hörbuch von oben, auch wenn das vielleicht etwas bschisse ist. (Um noch Musik hineinzubringen, ich habe Zaho de Sagazan Tickets für Strasbourg gekauft, hype, aber niemand gefunden, wo mit mir gehen will: allgemeiner Aufruf, 22. November, join me :))


Etwas zum Lesen: Ich denk, ich denk zu viel von Nina Kunz, besonders das Kapitel ‘Ich hasse dieses Internet’.


Wort der Woche: Küchenkaraoke (nicht vergessen, bin proud.)

 

In diesem Sinne wünsche ich dir einen schönen Tag in der UB-Bibliothek, wo du gerade 50 Luftmeter von mir Dinge sortierst oder Sonstiges machst.

 

Alles Liebe

 

Vera

 
 
 

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