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Liebe Michelle

  • Vera Rieger
  • 20. Dez. 2024
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 24. Dez. 2024

Freitag, 20.12.24, 19:36


Ich sitze gerade im TGV, eigentlich sollte ich schon in Paris sein, aber natürlich hat der Zug ein wenig Verspätung wegen eines Rucksack, der sein Herrchen (Ich wollte sein Besitzer oder Besitzerin schreiben, hatte dann keine Lust, doppelt zu gendern, aber Herrchen ist wohl auch ziemlich schiesse, naja) verloren hatte. Ich hab mich sosehr auf diese Zugreise gefreut, endlich einmal wieder in so einem geschützten Rahmen meine Gedanken schweifen zu lassen, mich einkuscheln und die gezählte Zeit geniessen. Nun, jetzt, wo das Adrenalin und die Restanspannung nach einem Adventssingen in der Schule mit fast 200 Schüler:innen aus mir rausgeflossen sind, bin ich aber ziemlich erschöpft. Ausserdem musste ich noch was fertigstellen, buuu. Egal, bald bin ich da, ich bin trotzdem sehr aufgeregt, ich liebe Paris! Deshalb dachte ich, ich mache hier einen Mini-Reise-Blog, der immer up-to-date ist. Ich werde im gleichen Blogpost schreiben, es gibt nur eine Mail jetzt, dafür vielleicht Instastories oder so für jeden kurzen Minieintrag. Bis jetzt ist nichts passiert, ausser ein Deutschtes Paar, welches last minute ohne Ticket eingestiegen ist, weil ihr Flug von AirFrance gecancelt wurden und die nicht verstanden hatten, dass sie im Zug selbst kein Aller-Retour Ticket mehr bestellen konnten, die sich dann aber trotzdem mit dem Zugpersonal angefreudnet hatten, jetzt bessere Plätze bekamen und ich glaube die Frau hat noch Geburtstag.

Bis später.

xoxo Vera


Samstag 21.12.24, 09:30, 16ème


Ich wollte das gestern schon schreiben, bin dann aber mit Buch auf dem Gesicht eingeschlafen. Nach der Zugfahrt hat mich mein Bruder (ich bin mit ihm hier, aber er kam schon etwas früher) am Gare de Lyon abgeholt. Dann sind wir etwas gelaufen und mit der Metro ans andere Ende der Stadt gefahren. Wir hatten sehr Hunger, also verschlug es uns ins nächstbeste Restaurant, dort gab es sehr französische Küche und ich habe ihn gezwungen, Schnecken zu essen, aber ich glaube, er fand es gar nicht so schlecht. (Es ist wie bei allen Schalentieren, kommt nur auf die Sauce an). Danach ging es zur Wonung. Wir konnten bei (flüchtigen) Bekannten von ihm aus der Besetzerszene unterkommen. Ein deutsches Pärchen, die hier wohnen und arbeiten, jetzt aber gerade nach Hause gefahren sind. Ich glaube, mein Bruder hat sie einmal gesehen. Der Grunsatz lautet halt aber: Wenn du links bist, können andere Linke bei dir schlafen. Das finde ich super, habe auch schon Leute beherbergt. Das lustige ist, dass die Wohnung überhaupt nicht nach Besetzerszene aussieht. Sie ist in einem grossen modernen Haus, wo viele Studios hotelmässig aneinandergereiht sind (mit Nummern), im Eingangsbereich hat es eine Schliessanlage, die mit einem spricht. Wild. Aber das Studio ist schon sehr klein, also ist es jetzt nicht heuchlerisch-reich oder so. Ich habe gut geschlafen und geträumt: Von einer Quizshow in einem Klassenzimmer, bei der ich wissen musste, wann die DDR aufgelöst wurde, die Antwort musste ein E enthalten, ich dachte aber, es wäre nicht 89, da dort nur der Mauerfall war, dann dachte ich, es war zehn Jahre später und gab 91 als Antwort, mein Unterbewusstsein ist wirklich scheisse in Mathe. (Richtige Antwort lautet 1990).


Samstag 21.12.24, 22:14 im Studio


Eigenlich wollte ich heute den Tag hindurch einen kleineren Eintrag am Handy machen, es hätte sich besonders angeboten in der BNF (Bibliotèque nationale française), aber dann habe ich stattdessen Comics gelesen, dort gibt es einfach ALLE Comics. So nun etwas mehr von vorne.

Wir sind heute Morgen nach dem obligaten Besuch einer Boulangerie mit Croissant und Pain au chocolat zum Montmartre gefahren, wo wir nicht nur die View vor der Sacre Coeur bestaunt, sondern ich auch ein kleines Gemälde gekauft hatte. Folgendes peinliches Szenario spielte sich dabei ab: Ich schaue mir Aquarellzeichnungen an, die ich schön finde und sage dann dem asiatisch ausschauenden Mann, dass ich es schön finde, wie der japanische Stil mit dem französischen Motivs des Eiffelturms gemischt wird. Und er so: chinesisch. Und ich so: omg sorry. Das war so unsensibel und ignorant von mir. Er hatte trotzdem Freude, dass ich ihm etwas abgekaufe und hat mir erklärt, dass es teils mit Wasserfarben, teils mit chinesischer Tinte gemalt wurde. (Ich habe ein Bild ohne Eiffelturmmotiv genommen, versteht sich).


Danach sind wir ins Quartier Château Rouge gegangen, auch Goutte d'or genant. Wir wollten dort afrikanisch essen. Es ist ein populäres Quartier und da noch eine Art Markt stattfand, war wirklich sehr viel los, mehr als in den Touristrassen. Ich bin zwiegespalten, was solche Quartiere angeht, weiss zum Teil nicht, ob ich das Recht habe, dort zu sein. Es ist hauptsächlich westafrikanisch geprägt und wir waren als Touristen die einzigen Weissen. Auf der einen Seite denke ich, dass wir mit unserem sicherlich grösseren Portmonee unverweigerlich zu Verdrängung (franz. boboïsation, wegen bohème, bourgois) beitragen, wenn wir dort essen. Andererseits finde ich es auch gut, als weisse Person das seltsame Gefühl des Aussenseiters erleben zu müssen. Natürlich ist es aufgrund eines komplett anderen Hintergrunds nicht vergleichbar und ich kann nicht wissen, wie sich PoC in einer mehrheitlich weiss geprägten Gesellschaft fühlen, aber ich denke das Gefühl des Auffallens ist doch entscheidend und gleich?. Das Essen war sehr gut, ausserdem gab es so viele Stände mit Plantains, überall (Kochbananen). Wegen meiner kamerunesichen Gastmutter liebe ich Kochbananen und habe mir vorgenommen, welche zu kaufen. Ich habe ausserdem bemerkt, dass die bananes vertes, welche ich bei uns im Spar gekauft hatte und die scheisse schmeckten, nicht das Gleiche sind wie echte Plantains. Das das Quartier noch viel spannender ist, als ich gedacht hätte, habe ich durch diesen Artikel erfahren: https://www.valeursactuelles.com/societe/lafrique-au-pied-de-montmartre (schon mega alt von 2011, oh nein, aber interessant, sonst fand ich nur Werbung für Touritouren) Auf Französisch, aber falls es jemanden interessiert, gibt es ja auch DeepL. Es geht viel um Migration verschiedener Bevölkerungsgruppen, soziale Stadtentwicklung etc. Ich bin da etwas nerdy manchmal.


Danach sind wir überspitzt gesagt vom einen Extrem ins andere gehüpft und besuchten die oben genannte Bibliothek. Sie ist viel cooler, als ich gedacht hätte. Der eine Saal ist gratis zugänglich und eigentlich ist es wie eine grosse UB in sehr, sehr fancy. Glaub mir, wenn du deine Arbeiten in so einer schönen Bibliothek schreiben könntest, hättest du sie alle schon lange fertig. Dort chillten wir eben und ich las Comics, die dort alle ovalförmig und richtig schön angeordnet sind. Anschliessend gingen wir noch in ein klassisches Konzert, bestaunten die wiederauferstandene Notre-Dame (von aussen), mussten Anstehen für einen Crèpe und dann ging es hier zurück. Ziemlich viel eigenlich, aber war trotzdem entspannt.


23.12.24, 11:58, sur la tour Eiffel, 2ème étage


Hallihallo, ich bin gerade auf dem Eiffelturm am Anstehen für die oberste Etage. Bis 25 ist es halb so teuer, deswegen muss das jetzt voll ausgeschöpft werden. Es ist sehr kalt und windig, aber die Sonne scheint, wunderschön. Weil es bisher immer am Morgen schön war und dann anfing zu regnen, sind wir heute früher raus.


Gestern waren wir erst bei La Défence, dem relativ neuen Banken- und Versicherungsviertel nach amerikanischem Vorbild. Dort spürt man sehr klar die Nachwehen des französischen Gottkomplexes. Es ist genau in einer Linie mit den champs élysées und dem arc de triomphe, ziemlich impressive, dort haben sie dann als Pünktchen auf dem i noch einen grand arche gebaut, aber weisst du was? Der ist einfach schräg, passt nicht genau auf die Linie. So ein Fail, Louis XIV wäre enttäuscht.


Danach fuhren wir zum Centre Georges Pompidou, meinem Lieblingsort, auch weil die Aussicht gratis ist und es eine sehr niederschwellig zugängliche Bibliothek hat. Die Hälfte der Leute dort ist am Schlafen, love it.


Dann ich es wieder sehr tief hinab in die Katakomben. Mir war nicht bewusst, dass dort Gebeine gelagert sind. Das Wort habe ich auch gestern gelernt, es heisst einfach Knochen von Menschen. Es ist etwas makaber, soviele Schädel von Menschen von vor 200-300 Jahren zu sehen, aber vor allem sehr eindrücklich. Besonders, weil es 300km solcher Gänge gibt, nur ein winziger Teil ist öffentlich zugänglich, crazy oder. Ich würde nach meinem Tod gerne nicht nur meine Organe spenden, sondern auch meinen Schädel. Damit kann damit Kunst gemacht werden. Das halte ich hiermit schriftlich fest.


Am Abend waren wie dann noch Sushi essen im 5ème (grosse Empfehlung, Oi Sushi, gut & günstig) und haben danach in einer Brasserie draussen was getrunken und uns dabei den Arsch abgefroren. Das macht man hier so. Es hat nur noch die Zigarette gefehlt, ich habe dich vermisst. Nach einer kurzen Visite des Restaurants von Gabriel aus Emilie in Paris und der grössten Moschee Paris' (von aussen, waren im Quartier) ging es zurück zur Wohnung.


Unterdessen stehe ich schon wieder an für den Lift nach unten. Die Aussicht war atemberaubend, der Eiffelturm lohnt sich einfach immer, wir konnten einem Fussballverein beim Training zuschauen aus 300 Meter höhe. Der Champagner war mit 23€ pro Glas leider zu teuer. Bis später, heute Abend fährt schon der TGV zurück nach Basel :(


24.12.2024, Heiligabend, 10:30


Bin wieder zuhause. Fühle mich etwas erüchtert. Mag Weihnachten nicht. Gehe jetzt gleich ins Gym mit einigen vom Rugby, vielleicht hilft das ja. Ich freue mich auf Sylvester. und auf eure Party. Habe guten Crémant de Bourgogne gekauft. Bis bald

 
 
 

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