Liebe Michelle
- Vera Rieger
- 12. Dez. 2023
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 2. Jan. 2024
Vielen Dank für deinen tollen Brief mit vielen spannenden Gedanken. Tatsächlich gibt es einige Punkte, denen ich nicht zustimme oder bei denen ich sehr anderer Meinung bin. Aber Übereinstimmung ist nett. Reibung ist bekanntlich spannender. Deswegen freue ich mich, diese Antwort zu formulieren.
Ich finde es wirklich unglaublich spannend, wie du Erinnerungen siehst. Bei mir ist es tatsächlich gegensätzlich. Dass die emotionale Intensität abnimmt stimmt vielleicht, und das Argument mit der Therapie verstehe ich. Aber ich denke, dass es hauptsächlich Traumata betrifft. Und alle Erinnerungen sind ja nicht Traumata. Bei mir ist es so, dass Erinnerungen nur noch fester und intensiver werden, wenn ich oft daran denke. Und somit dann auch einen direkten Einfluss auf meine gelebte Gegenwart haben. Die zeitliche Entfernung an das erlebte Ereignis ist dabei nicht entscheidend. Dann passiert eben, dass sie sich verselbstständigen. Das habe ich ja eigentlich letztes Mal schon geschrieben, aber ich fand es einfach nochmals krass, wie da unsere Wahrnehmung auseinandergeht. Aber hier wird dieser Diskurs auch etwas neurowissenschaftlich und weil wir da beide keine Ahnung haben, möchte ich nicht mehr ausführen. Ich werde mich aber schlauer machen.
Zum Alter: Ich finde das so schön, wie du schreibst, dass du gerne älter wirst und es nur Vorteile hat. Diese positive Lebenseinstellung dem Alter gegenüber habe ich in letzter Zeit oft gehört und der Satz „es wird tatsächlich immer besser“ scheint mir auch ziemlich en vogue. Persönlich empfinde ich das sehr anders. Damit meine ich nicht die klischeehafte Angst vor dem Älterwerden, die Äusserlichkeiten und Attraktivität betrifft (oder die Hysterie um Zahlen). Sondern die Tatsache, dass meine persönliche Entwicklung nicht linear verläuft. Eher wie auf einer Achterbahn, mal geht es hoch, mal runter. Ich fühle mich nicht immer wie selbstbewusster, sondern mal weniger, mal mehr. Ich glaube auch nicht, dass man immer kluger wird, manchmal habe ich auch Phasen, wo ich dümmer werde oder stagniere. Besser gesagt Phasen, in denen ich aus meinen Erfahrungen keine Schlüsse ziehen kann oder den Mut nicht finde, zu tun, was richtig wäre. Aber das ist okay. Das macht mir auch nichts aus. In jeder neuen Lebensphase ist es wieder ein neues Zurechtfinden, das Anpassung erfordert. Vielleicht bedeutet das im Groben schon das Gleiche, wie du beschreibst. Vielleicht bin ich auch gerade etwas pessimistischer, da ich ziemlich tief in meiner depressiven Winterverstimmung stecke. Wobei ich glaube, dass der schlimmste Teil jetzt vorbei ist. In den letzten Briefen habe ich mich angestrengt, heiter zu wirken, da ich dachte, dass so ein deprimierter Kack keiner lesen möchte (Stichwort Performanz). Aber eigentlich habe ich viel geweint, Heulattacken aus dem Nichts gehabt, war leicht reizbar, anstrengend, teils gelähmt und meine Zukunftsangst war auf einem all time high . Ich habe lange überlegt, wie ich diesen Zustand in einem Bild beschreiben kann. Es fühlt sich an wie Balancieren auf einem Schwebebalken oder einem sehr schmalen Grat in den Bergen. Da herrscht eine konstante Anstrengung, nicht runterzufallen, die Konzentration erfordert. Und ab und zu kommt ein starker Windstoss und dann falle ich doch runter. Ich komme immer wieder hoch, leicht oder gekraxelt. Kraxeln erfordert Kraft, aber ich komme immer wieder hoch. Dann gibt es Momente, in denen mich ein ungewöhnlicher Mut packt, ich wage Kunststücke auf dem Schwebebalken, schlage ein Rad, fange selbst an zu schweben oder gar zu fliegen in berauschtem Zustand. Doch da ist das Risiko runterzufallen noch höher. Aber ich will nicht mehr balancieren, will einfach einen festen Boden unter den Füssen, wo ein Schritt zu weit rechts oder links nichts ausmacht. Doch da bin ich langsam wieder. Der Grat wird immer wie breiter. Das ist schön und bald ist wieder Frühling. Hier noch zwei Textfetzen aus unterschiedlichen Phasen:
Another day of sun
Ich habe innerlich (und leicht äusserlich) gegen die Öde des Büros angetanzt. Glückseligkeit.
Heute morgen hatte ich Lust auf einen Wutanfall. Dinge runterreissen, Teller schmeissen, stampfen, Türen schletzen, technische Geräte kaputtschlagen, schreien, anschreien, losheulen bis die Lungen schmerzen. Kompletter Kontrollverlust.
Zivilisierte erwachsene Frauen haben keine Wutanfälle. Meisterin der Impulskontrolle.
Im Treppenhaus einen Turnschuh an die Wand knallen muss reichen.
Nach diesem kurzen Exkurs in meine Innenwelt, will ich wieder auf deine Themen eingehen. Es war so berührend, wie du von Danny geschrieben hast. Danke, dass du sie mit mir geteilt hast. Ich freue mich übrigens schon sehr darauf, dann einmal das fertige Werk zu lesen. Weil du sagtest, dass du es nie mit jemandem teilst: Kann es sein, dass du früher mehr von deinen Geschichten geteilt hast? Ich kann mich an Chat-Nachrichten mit Anfragen fürs Durchlesen erinnern. Weisst du, woran das liegt, dass du heute zurückhaltender bist? Vielleicht haben wir das auch schon besprochen hier, geht wahrscheinlich in die gleiche Thematik hinein. Das Zitat von Julia Weber kann ich gut nachvollziehen. Aber ja, du hast recht, ich schreibe eher poetry-slam-mässig (aber ohne die Reime, den Rhythmus oder die Alliterationen) oder essayistisch. Oft anhand von einem Thema, etwas persönlich und etwas gesellschaftlich. Ich mache gerne provokative Sozialstudien. Oder besser gesagt persönliche Analysen. Ansonsten schreibe ich schnulziges Zeugs, kleine Miniaturen. Es fällt mir schwer, nicht über mich selbst zu schreiben, was mir etwas peinlich ist. Gleichzeitig bin ich sehr unkreativ, was Handlungen betrifft. Genauso wie ich mir Handlungen nicht merken kann, kann ich auch keine erfinden. Ich bringe lieber Geschichten, die es schon gibt in eine Form, versuche Menschen so genau wie möglich zu beschreiben, überlege mir, wie ich Dinge spannend verknüpfen kann. Da gibt es soviel, was ich erzählen möchte. Ich habe wahnsinnigen Respekt für das Erschaffen eines komplett fiktiven Charakters. Immer wenn ich das versuche, finde ich es cringe, wenn ich es wieder durchlese. Es kommt mir dann so klischiert vor. Wie erfindet man Dinge, die real erscheinen sollen, ohne in Klischees zu verfallen? Das frage ich mich oft. Vielleicht hast du ja eine Antwort dafür.
Nun zur Biederkeit. Heute hake ich einen Punkt nach dem andern ab wie auf einer To-do-Liste. Das ist nicht sehr galant, aber leider fallen mir keine guten Übergänge ein. Deine Analyse über deine Biederkeit hat mich sehr amüsiert. Aus dem Grund, dass einige scharfe Zungen in unserem Freundeskreis das Gleiche von dir behaupten momentan. Ich erlaube mir, das hier zu offenbaren, da es mir scheint, dass du da komplett darüberstehst, was ich super finde. Hilarous sogar. Es gibt nichts Cooleres als stolz gelebte Spiessigkeit. Du hast mich gefragt, ob ich auch eine Routine entwickelt habe. Jein. Zum Einen habe ich noch nie so oft hintereinander am gleichen Ort geschlafen (seit etwa fünfeinhalb Jahren), oft mit F. Frühstück gegessen, da wir beide nicht früh auf müssen. Zum anderen habe ich es leider nicht geschafft, eine Struktur zu erschaffen, die Putzen, Einkaufen, Wäsche machen, etc. beinhaltet, auch wenn ich weiss, dass mir das sehr helfen würde. Dem Chaos bin ich also nicht entkommen (auch letztes Jahr nicht, als ich regelmässigere Arbeitszeiten hatte). An jegliche selbstauferlegten Rituale (wie z.B immer früh aufstehen, was Key ist, um dem zu entkommen, was ich oben beschrieb) konnte ich mich nicht halten. Gleichzeitig merkte ich, dass ich das viele Herumfahren sehr vermisse. Ich brauche es, immer wieder woanders aufzuwachen, eine andere Decke über dem Kopf zu haben. Es gibt mir eine gewisse Freiheit und lässt mich atmen. Ansonsten fühle ich mich eingesperrt und in einem Loop gefangen. Das war auch ein Grund, wieso ich unbedingt ins Weekend kommen wollte. Ich bin dann aber stattdessen zu unserer Freundin nach Bern gefahren, wir waren am Weihnachtsmarkt, haben Fajitas gegessen und dann zwei Weihnachtsfilme nacheinander geschaut. Das war sehr schön. Ungeduscht und verkatert sonntags Zug zu fahren, wurde in den letzten Jahren zu einer ungewollten Gewohnheit (& dann im übervollen Migros am HB einkaufen). Nie gedacht, dass ich daran nostalgisch zurückdenken würde.
Es ist spät, schon nach Mitternacht, ich bin leider auch etwas verspätet mit dem Schreiben. Dieser Brief war etwas gossipy schlussendlich, aber wer mag das nicht. Ich freue mich, wenn wir uns bald wieder sehen.
Alles Liebe
Vera
PS: Kann es sein, dass "aufgekratzt" dein Lieblingswort ist? Du benutzt es sehr oft. Wie ich gemerkt habe - als ich endlich mal die Bedeutung gegoogelt habe - ist es ein sehr schönes Wort. Ich dachte, es hiesse so etwas wie "nervös", "aufgedreht" oder so. Stattdessen ist es mehr "glücklich", "heiter" oder? Was magst du an dem Wort so sehr? Ich frage, da es dieses Wort in unserer Alltagssprache ja nicht gibt.
PPS: Bitte für die Blumen.



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