Liebe Michelle
- Vera Rieger
- 12. März 2024
- 5 Min. Lesezeit
Kaum hat das Semester begonnen – und auch ich bin deutlich zu spät. Nicht nur in jeder einzelnen Vorlesung, jedem Kurs oder Seminar, sondern auch hier bei unserem Blog. Wir sollten uns wirklich eine strengere Deadline setzen und das Schreiben dann immer priorisieren!
Ich danke dir fürs Teilen von deinem äussert persönlichen Text. Meine verzweifelte Antwort darauf, die ich dir privat geschickt habe, werde ich nicht teilen. Das liegt auch daran, dass ich sie auf meinem vierten Flug an diesem Tag geschrieben habe. Und ich sehr stark glaube, dass Texte, denen schon 3 Flüge, 4 verschiedene Flughafen, 4 verschiedene Währungen, 4 verschiedene Sprachen und ein überteuerter Döner für 20 Franken in Instanbul (wtf) vorangingen, nicht veröffentlicht werden sollten. Das war wirklich ein anstrengender Tag. Als Kontext für alle Lesenden: ich bin auf meiner Rückreise von Sri Lanka zuerst von Colombo nach Muskat, dann von Muskat nach Instanbul, von Istanbul nach Belgrad, von Belgrad nach Zürich geflogen und dann zu guter Letzt noch ein Stündchen mit der schönen SBB nach Basel gefahren. Was man nicht alles macht, um etwas Geld zu sparen.
Nun, ich bin wieder da. Und du hast recht, ich hatte keine Mühe damit, mich schnell wieder einzugewöhnen. Dies liegt auch daran, dass ich nie ganz weg war. Physisch befand ich mich auf einem anderen Kontinent, aber mental und im Internet war ich oft noch stark in der Schweiz. Wie man es hoffentlich meinen Texten angemerkt hat, habe ich mich stark für die Ferne interessiert. Aber das änderte nichts an meinem Instagram-Algorythmus. Oder den whats app chats. Gestern hat mich eine ältere Frau, die auch bei Antigone im Sprechchor mitspielt, wo ich noch etwas auf der Theaterbühne herumtümpel, sehr zum Nachdenken gebracht. Sie hat mich gefragt, wie meine Reise war und erzählt, dass sie früher auch oft in Südostasien und Indien war, stets über längere Zeit. Dann meinte sie; weisst du, damals, da war es noch einfach, da gab es noch kein Internet, nur so eine Überseepost. Ich fand es spannend, dass sie das Wort «einfach» benutzte, da es wohl nichts Einfacheres gibt, als innerhalb von 5 Minuten auf Skyscanner einen Flug zu buchen, die Kreditkartendetails einzugeben und dann noch schnell ein e-Visa zu beantragen. Aber sie meinte, dass es möglich war, wirklich weg zu sein und sich auf die fremde Kultur einzulassen. Und vielleicht hat sie recht. Wir werden nie wissen, wie die Welt ohne Internet ist und wie es sich anfühlt, wirklich an einem fremden Ort zu sein ohne direkten Kontakt zur Heimat. Ohne direkten Kontakt zur ganzen Welt eigentlich. Denn gerade auf Reisen ist man sehr stark auf das Internet angewiesen. Dies soll jetzt kein früher-war-alles-besser-Argument werden. Aber ich stelle es mir spannend vor, einen Vergleich zu haben. Und ich frage mich, was nach dem Internet kommt. Wovon werden wir später sagen; früher, da gab es das noch nicht. Hast du futuristische Kreativität, um dir so was auszudenken? Ich glaube, du bist dem sience fiction genre näher als ich. Und verspürst du manchmal ein Berdürfnis nach einer Welt ohne Internet? Klarkommen würden wir natürlich nicht.
Ich bin jetzt zum ersten Mal in meinem Leben wirklich Studentin. So fühlt es sich zumindest an und meine Therapeutin hat heute gemeint, ich soll das so benennen, wegen Identifikation oder so. Ja, ich bin jetzt in Therapie wegen dem ADHS und auch sonst und das fühlt sich sehr basic, aber auch gut an.
An der Uni finde ich manche Dinge spannend, andere langweilig und ich komme nicht nach mit dem Lesen. Allgemein bedarf mein Alltag noch etwas Ordung, denn eigentlich möchte ich noch 1. einen Job und 2. ein Sport-Hobby. Es ist verrückt, aber ich hatte noch nie in meinem Leben so viel Mühe, irgendeinen Scheiss-Job zu finden. Langsam ist mir die Lust am Bewerbungenschreiben echt vergangen.
Heute werde ich mich auch etwas kurzhalten, aber noch folgendes: Letzte Woche habe ich mich das erste Mal in poetry slam versucht. Dafür bin ich extra nach Winterthur gefahren, wo ich am nächsten Abend noch einmal hinfahren musste, da ich mein I-Pad vergessen hatte. Irgendwann schreibe ich ein Buch über all die Momente in meinem Leben, wo ich irgendwo in der Kälte im Regen stand wegen irgendeiner Dummheit meines Gedächtnisses. Der Grund für den slam ist einfach. Was tut man, wenn man als 08/15-Europäerin in einer Identitätskrise steckt? Genau, man fährt nach Indien. Was, wenn das nichts nützt? Man macht poetry slam. Bitte sag mir, ob dieser Gag gut oder schlecht ist, ob ich ihn das nächste Mal benutzen soll oder um Himmels Willen nicht. Nun ja, es war ganz lustig, ich schreibe halt gerne und ich stehe gerne auf der Bühne.
Zum Schluss kann ich noch sagen, dass ich heute schwimmen war. Ich bin unserem gemeinsamen Ziel, Crawlen zu lernen einen riesen Schritt nähergekommen. Die wichtigste Einsicht war, dass ich meine Beine einfach nicht so fest bewegen darf, weil die zu viel Sauerstoff fressen. Mein Schwimmlehrer war übrigens dein Freund ;)
Danke fürs Erinnern, dass ich die Rubriken vergessen hatte. Hier sind sie:
Etwas zum Glotzen: Tatsächlich war ich schon zwei Mal im Kino seit meiner Rückkehr. Aber ich verlasse mich auf das Urteil anderer und nenne ich hier den Oskarüberflieger "Oppenheimer", da der Film selbst noch auf meiner to-watch list steht.
Etwas zum Lesen: Ich habe ein Seminar über das Buch "Se questo è un uomo" von Primo Levi, zu deutsch "Ist das ein Mensch?". Es ist ein autobiografischer Text über seinen Zwangsauffenthalt in Ausschwitz. Ich dachte stets, viel über das Thema zu wissen, da es doch in unserer Schullaufbahn allgegenwärtig ist. Doch die Nüchternheit und das Oszillieren zwischen poetischer und wissenschaftlicher Sprache machen dieses Werk absolut lesenswert. (Erbärmlicher Versuch des akademischen Tons) Ich lerne extrem viel Neues und wir haben spannende Diskussionen, die zum Teil schrecklicherweise tagesaktuell sind. Ein wichtiges Buch. Hundert Mal besser als das Jugenbuch "Der Junge im gestreiften Pyjama", mein absolutes Hassbuch.
Etwas zum Hören: Radio. Wir haben wieder ein festinstalliertes Radio und ich fühle das extrem. Ich mag es, nicht zu wissen, welches Lied als nächstes kommt und nicht entscheiden zu müssen. Um noch Musik zu nennen: "How do I say Goodbye" von Dean Lewis. Ich finde das Lied ein guter schlechter Popsong und als er plötzlich lief, hat mich das daran erinnert, wie ich vor einem Jahr, als ich an der Sonderschule arbeitete, mit 4 Kindern im Auto ins Schwimmbad fuhr. Da kam dieser Song, zu dem wir gemeinsam sangen und ich erklärte Liam, der nach grossem Streit vorne sitzen durfte, was der Text bedeutet.
Und ja, "the code" von Nemo, absoluter Banger.
Etwas zum Essen: Gutes Brot mit Butter und Konfi oder Honig. Klassisches "Schwizer z'Morge", e "Konfischnitte", vielleicht nenne ich das auch, weil ich gerade Hunger habe, aber manchmal muss man zu den guten alten einfachen Dingen stehen.
Okay, gute Nacht, bis zum nächsten Mal vol on time, die wir noch definieren müssen.
Alles Liebe
Vera
PS: Ich bitte um Roman-Nachschub, ich muss wissen, wie es weitergeht.



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