Liebe Michelle
- Vera Rieger
- 25. März 2024
- 6 Min. Lesezeit
Bevor ich hier richtig beginne, vorweg das Wichtigste: Herzliche Gratulation zu eurem ersten Sieg mit der Handballmannschaft (oder sagst du Frauschaft?)! Da ich doch schon an zwei Matches war, finde ich, dass ich als Fan zähle und sagen kann, dass ich stolz auf euch bin. Nach so langem Warten muss sich das sehr schön angefühlt haben. Ich hoffe, ihr habt gut gefeiert.
Das ist wieder einmal ein nächtlicher Brief: 03:37. Dies ist meiner eigenen Dummheit geschuldet, da ich um 23:00 einen Kaffee trank, den ich eigentlich um 22:00 trinken wollte, um noch etwas länger wach zu sein. Aber dann schlief ich um 23:00 ein und wachte um 01:00 wieder auf. Egal. Ich habe allgemein nicht das unproblematischste Schlafverhalten momentan, oft wache ich sehr früh oder mitten in der Nacht auf und kann nicht mehr einschlafen.
Ich hoffe, du hattest diese Woche eine etwas weniger stressige und aufwühlende Zeit. Meine Woche war ziemlich ereignisreich mit Gäst:innen bei uns zu Hause und zwei Abenden in Zürich. Das Wochenende dafür eher easy-going, was ich aber nicht so gerne mag. Ich finde die Kombination von "viel zu tun, aber wenig vor" sehr schwierig. Weisst du, was ich meine? Dann ist es am einfachsten, alles rauszuschieben, doch nichts zu tun und sich dann schlecht zu fühlen. Am liebsten mag ich es, z.B. am Abend etwas vor zu haben, damit ich genau weiss, bis wann gewisse Dinge gemacht sein müssen. Aber nun zum wichtigsten:
ES IST FRÜHLING!
Diese Woche waren die ersten schönen, sonnigen und milden Frühlingstage und es tut so gut! Das Parfüm der Magnolien ist Balsam für die Seele. Jeden Morgen öffne ich das Fenster und höre den Vögeln zu. Wenn ich gerade hype bin, verstärken die Sonne, dass Wetter und das Spriessen diese Glücksgefühle und wenn ich traurig bin, dann tröstet mich der Frühling. Ich reagiere sehr stark auf die Jahreszeiten und jeder Wechsel löst viel in mir aus. Meistens angeregt durch den Geruch. Aber auch die sich veränderte Geräuschkulisse und das Licht berühren mich. Gestern war ich unsere Freundin im Spital besuchen und da flog ein Storch vorbei. Sie sind also zurück. Vielleicht werde ich noch Bärlauch-Pesto machen und bald schon steht dann das obligate alljährliche Holunderblütensirup-Kochen an. Darauf freue ich mich sehr. Heute habe ich ausserdem Blumen gekauft, umgetopft und auf den Balkon gestellt. Dieser sieht leider immer noch etwas trist aus.
An dieser Stelle muss ich dir sagen, dass ich gerade froh bin, dass wir dieses Blog-Projekt hier zusammen machen. Jetzt wäre nämlich der Moment (vielleicht auch schon früher), wo ich alleine nicht mehr weitermachen würde. Es interessiert mich immer, neue Dinge anzureissen, aber ich habe Mühe, diese durchzuziehen. Ausserdem fehlt mir gerade die ausgeprägte Erzähllust. Es gab Zeiten (davon zeugen viele Texte auf meinem I-Pad) in denen ich jedes kleinste Event erzählenswert fand und lustvoll darüber schrieb. Ein solcher Text entstand zum Beispiel im Herbst 2022 und er ist an dich adressiert, da ich damals schon die Idee dieser Korrespondenz hatte. Ich habe also ein Jahr gebraucht, bis ich dich gefragt hatte. Ziemlich lange. Der Text dient mir aber nun als Back up, falls ich mal wirklich keine Zeit oder Lust habe.
Nun möchte dir von einer seltsamen Begegnung erzählen, die ich diese Woche hatte. Vielleicht war ich eine soziale Heldin oder ich wurde als naive, junge Frau emotional erpresst. Wahrscheinlich eher das zweite. Also, es lief folgendermassen ab: Ich sass gemütlich in der Sonne im botanischen Garten und lass einen Text für die Uni. Da kam eine junge Frau sehr zielstrebig zu mir und flüsterte mir zu: "Mir geht es gerade sehr schlecht, können sie mir helfen?". Ich war etwas überfordert, willigte aber natürlich ein. Ich hatte Angst, dass sie suizidgefährdet sein könnte, oder dass ihr gerade etwas schlimmes wiederfahren sei. Wir liefen ein kleines Stück zusammen und sie erzählte mir, dass sie von Bosnien sei, mit ihrem Mann zwangsverheiratet wurde, dass der sie vergewaltigt hatte und sie deswegen durch die Hilfe von Schleppern mit ihren zwei Kindern in die Schweiz flüchtete. Hier sei sie seit zwei Jahren und wohnt auch in einer Wohung diesen Schleppern. Ein Asyl kriege sie nicht, da Bosnien kein Flüchtlingsland ist. Bis heute um 4:00 müsse Sie den Schleppern Miete zahlen. Sie hätten ihr sonst mit der Polizei gedroht. Da sie als sans-papier illegal hier sei, würde sie dann zurückgeschickt werden. Sie fügte eilig an, dass sie schon alle Meldestellen, Allaufstelle für sans-papier etc. (sie zählte sehr viele auf) abgeklappert hätte und diese ihr nicht helfen könnten. Heute wollte ein Mann mit ihr schlafen, als sie um Geld gefagt hatte, aber so etwas mache sie nicht.
Sie erzählte sehr klar und strukturiert in perfektem Deutsch mit leichtem Akzent, aber ohne Fehler. Ich stellte ein paar Fragen, auf die sie immer gleich eine Antwort wusste. Auf die Frage, warum sie so gut Deutsch spreche, antowrtete sie mir, dass sie in Bosnien ein Semester studiert hätte, dann aber aufhören musste. Sie konnte mir keine Natelnummer geben, da sie als sans-papier keine Simkarte kriegen würde. Was tut man in so einer Situation? Was hättest du gemacht? Ich finde das extrem schwierig. Wir schwingen auf Demos unsere Parolen für eine gerechtere Welt, aber wenn es darum geht in einer konkreten Situation zu reagieren, sind wir überfordert oder haben den Impuls, wegzugehen. Diese Wiedersprüchlichkeit des linken Bürgers machten mir zu schaffen, weswegen ich nicht gleich ging. Ich dachte, dass ich sie zum Elsi bringen könnte, da dort Menschen besser Bescheid wissen als ich. Ich versuchte, meinem Bruder anzurufen. Sie wiederholte mehrmals, dass es mir so gut ginge hier, ich alles habe und sie nichts. Sie sprach von Privilegien. Dass für sie alles auf dem Spiel stehe. Dies alles mit Tränen in den Augen. Natürlich hatte sie recht, falls die Geschichte stimmte. Sie brachte mich dazu, dass ich ihr 50 Franken gab. Doch dann ging es erst richtig los, sie sagte, dass sie seit 9 Uhr Morgens hier sei und mehr bräuchte für die Miete. Sie fing noch mehr an zu weinen. Ich wiederholte mein Angebot, dass ich sie zum Elsi begleiten könne, da es dort Menschen gab, die ihr konkret helfen können. Daraufhin sagte sie: "wenn die mir das Geld nicht geben, gibst du es mir". Da merkte ich, dass ich zum zweiten Mal tatsächlich erpresst wurde, ging nicht auf diesen "Deal" ein und sie lief weg.
Ich rief danach bei der Anlaufstelle für Sans-Papier Basel an, um zu Fragen, was ich in so einer Situation hätte tun sollen, aber der Praktikant konnte mir nicht wirklich weiterhelfen. Mit wurde aber klar, dass diese Stellen tatsächlich auch mit einigen Bürokratischen Hürden verbunden sind. Vielleicht ist das ja aber auch sinnvoll. Denn nach dieser Begegenung war ich nicht nur 50 Franken leichter (was ich tatsächlich verkraften kann), sondern fühlte mich vor allem benutzt. Obwohl ich dies nicht mit Sicherheit sagen kann, kommt mir die Geschichte im Nachhinein sehr schleierhaft vor. Besonders ihre guten Deutschkentnisse passen nicht ins Bild. Sie wollte möglichst nichts wirklich privates von sich preisgeben. (Wohnort/Telefon) Ausserdem musste sie wissen, dass ich die Polizei nicht rufen würde. Es wirkt ausgesprochen taktisch. Oder sind diese Gedanken schon fremdenfeindliche Ressentiments meinerseits? Falls es wirklich eine ausgesprochen ausgeklügelte Betteltaktik ist, nimmt es mich Wunder, was ihre richtige Geschichte ist. Sie wird bestimmt kein einfaches Schicksal haben, auch wenn die Geschichte eine Lüge ist. Es macht mich aber auch traurig, dass Frauen die Hilfsbereitschaft und Gutmütigkeit anderer Frauen knallhart zum Businessmodell machen. Denn ich bin sicher, dass sie nur Frauen angesprochen hat.
So weit, so gut. Ich hoffe, du erkennst, dass ich immer noch viele Fragen habe, was diese Begegnung betrifft und nicht weiss, ob ich richtig reagiert habe. Falls alles der Wahrheit entspricht, fühle ich mich mitverantwortlich, dass sie abgeschoben wird. Wenn alles eine Lüge war, fühle ich mich verarscht.
Hier noch unsere Rubriken:
Etwas zum Hören: Ich habe meine ehemalige Mitbewohnerin gebeten, mir eine neue Playlist mit Italo-Pop (alt und neu) zu schicken, da ich ihre alte schon seit 3 Jahren höre. Darauf war der Gute-Laune-Song: bellississima von ALFA.
Fresh new music: Loin d'ici von Zamdane, das ganze Album ist sehr spannend, aber dieser Song der tanzbarste.
Etwas zum Lesen: Nichts. Schmeiss die Schunken weg, ich will tanzen gehen. Wir müssen echt wieder tanzen gehen. Ich habe Angst, dass Henning May recht hat mit "24,25,26 & du tanzst nicht mehr wie früher".
Etwas zum Essen: Döner nach dem Tanzen.
Etwas zum Glotzen: Ich habe mir das Glotzen irgendwie abgewöhnt oder bin zu aufgewühlt dafür. Aber geh raus und schau dir die Sonne, die Blumen und die Knospen an. (cringe)
Nun, ich hoffe, dass wir uns bald wieder sehen und wünsche dir eine gute Woche und besonders: schöne Ostern!
Ich bin traurig, dass ich am Oserbrunch nicht dabei sein kann, freue mich aber auch auf das Kochen im Pfadikurs. Es ist das erste Mal, dass F. und ich zusammen in einem Lager sein werden seit wir uns vor 6 Jahren eben da kennengelernt haben. crazy oder.
Alles Liebe
Vera



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