Liebe Vera
- Michelle Harnisch
- 31. März 2024
- 6 Min. Lesezeit
Zu deinem letzten Brief möchte ich zuerst sagen: ich habe gemerkt, dass ich da um einiges asozialer bin als du. Ich gehe sehr oft mit Kopfhörern durch die Welt und bin durch meine vielen Trips über den Zürich HB sehr gut darin geworden, Leute abzuwimmeln. Vielleicht etwas unsympathisch, aber ich lasse mich eigentlich nie mit Fremden auf ein Gespräch ein. Ich weiss also nicht ganz, was ich in deiner Situation gemacht hätte. Ich wäre sicher auch sehr überfordert gewesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich aber nicht richtig zugehört hätte und weitergegangen wäre, ist aber relativ gross. Macht mich das zu einem schlechten Menschen? Kannst du mir ehrlich sagen.
Auch jetzt wieder asozial ein Cut und Themenwechsel. Dieser Brief ist etwas fragmentarisch geworden, weil ich ihn nicht wie sonst in einem Schub geschrieben habe. Ich füge aber Daten an, damit es nicht allzu verwirrend wird. Mein letzter Brief war ein bisschen ein Downer, aber diese Woche war ziemlich gut. Vielleicht liegt es aber auch am Frühlingswetter und daran, dass jetzt wieder Sommerzeit ist. Obwohl ich das nicht auf dem Schirm hatte und erst heute Morgen im Bus gesehen habe.
Samstag, 23. März 2024
Es ist etwas Wunderbares passiert! Wir, die Tabellenletzten während der ganzen Saison, haben unseren ersten Handballmatch gewonnen. Es war sooo knapp und wir hatten alle sooo Herzrasen. Es war wirklich sehr knapp, wir haben mit einem Tor gewonnen. Das entscheidende Tor haben wir geworfen, während wir eine Spielerin weniger auf dem Feld hatten, wegen einer Zweiminutenstrafe. In den letzten zwei Minuten haben die Gegnerinnen dann sehr offensiv gespielt. Sie waren sowieso schon in der Überzahl und ihre Goalie ist dann auch in den Angriff gegangen. Es war crazy. Ich war die letzten zehn Minuten auf der Bank und ich habe nur noch geschrien und gehofft und ganz oft auf die Bank geklopft (Holz aalänge, du weisch). Und in diesem chaotischen Angriff hat unsere Goalie drei Würfe gehalten, absolute Legende. Als der Buzzer dann gegangen ist, sind wir alle aufs Feld gerannt und sind aufeinander gesprungen. Ich habe dann in diese Gesichter geschaut, ich schwöre, praktisch alle haben geweint, und es hat etwas wirklich Gutes mit mir gemacht. Diese Verbundenheit im Sport ist bei einem klaren Verlust häufig nicht so deutlich spürbar, aber wenn man so sehr zusammenspannt und es dann endlich, endlich einmal klappt! Ich kann das gar nicht beschreiben! Es war so, so, so schön. Ich weiss nicht, ob du dir vorstellen kannst, wie sich das anfühlt. Denn wir alle haben die ganze Saison lang gespürt, wie wir besser geworden sind. Und jetzt endlich einmal dafür belohnt zu werden, war einfach nur wunderbar. Auch in der Garderobe danach flossen noch einige Tränen. Es hat sich also sehr gelohnt, nicht in den Europa Park zu fahren mit den anderen, lol. Am Montag haben wir noch unseren letzten Match vor Saisonende und wenn wir den auch gewinnen, sind wir nicht Tabellenletzte. Ich drücke uns die Daumen.
Montag, 25. März 2024
Wir haben den Match verloren, lol. Ziemlich deutlich sogar. Wir sind also immer noch Tabellenletzte.
Freitag, 29. März 2024
Gerade ist Karfreitag und wie jedes Jahr, bin ich nicht sicher, was in der Jesusgeschichte heute geschehen sein soll. Es ist mir aber auch nicht wichtig genug, dass ich es irgendwo nachschauen würde. Wichtiger heute war, dass ich mir nur zweieinhalb Stunden Schlaf ins Tierheim musste. Für den Kontext: ein Katzen Tierheim/Ort, wo Leute, die in die Ferien fahren, ihre Katzen abgeben können. Dort arbeite ich schon seit dem Gymi als Wochenendaushilfe. Dann muss ich jeweils drei Mal dorthinfahren und die Katzen füttern und ein bisschen putzen. Zahlt aber voll okay und ist, wenn man am Abend vorher nicht betrunken war, auch ziemlich herzig.
Als ich aufwachte, war ich immer noch betrunken, der Kater hatte also immerhin noch nicht eingesetzt. Scheisse war es trotzdem. Die Übelkeit setzte dann aber spätestens in dem Raum voller Katzen ein, der nach Katzenfutter und Katzenstreu roch. Sie verschwand auch während der darauffolgenden Autofahrt nach Bern nicht. Grossartig, dass mir ja sowieso schon schlecht wird, sobald ich länger als eine halbe Stunde auf dem Rücksitz eines Autos mitfahre. Keine guten Voraussetzungen also auch für das folgende Familienzmittag im «gut bürgerlichen» Restaurant, wie man so schön sagt, wenn man Fleisch lastige Küche in der Schweiz beschreiben möchte. Ich habe am Tisch einen Randplatz neben meinem Vater ergattert, der Verständnis hatte für mich, wofür ich dankbar war. Ich habe ca. zwei Drittel meines Essens einpacken lassen, weil mein Magen tatsächlich immer noch nicht so stabil war. Man merkte mir an, dass ich müde war, mein Schweigen ist aber für die Verwandten, die mich nur zwei Mal im Jahr sehen, wohl nicht so aussergewöhnlich. Ich weiss nicht, ob sie mich genügend gut kennen, um meine Laune wirklich einschätzen zu können. Trotzdem hat es sich ein wenig angefühlt, wie vor einigen Jahren, als mein Bruder und ich angefangen haben, in den Ausgang zu gehen, ohne an die Familienfeste am nächsten Tag zu denken. Mein Magen ist auch jetzt noch nicht stabil, obwohl es jetzt fast fünf ist und ich wieder auf dem Weg ins Katzenheim bin. Jetzt mit einem richtigen Kater. Das Wortspiel schreibt sich selbst, aber ich habe keine Energie dazu, überleg dir selbst eines.
Auch dieser fucking Nebenjob hält mich immer ein bisschen in der Vergangenheit. Verkatert frühmorgens ins Tierheim zu müssen ist ein Gefühl, das mir überhaupt nicht fremd ist, das ich aber schon lange nicht mehr hatte. Es erinnert mich an unsere Gymizeit, wo ich zeitweise gefühlt jede zweite oder dritte Woche den Wochenenddienst machte und mich häufig davon abhalten musste, mich in ein Katzenkistchen zu übergeben. Ich hab das wirklich nicht vermisst.
Samstag, 30. März 2024
Ich habe gemerkt, dass diese Briefe mich viele Dinge noch einmal in einem anderen Licht sehen lassen. Ich hatte das früher bereits, wenn ich eine Phase hatte, in der ich wirklich konsequent Tagebücher geschrieben habe. Weil ich das hier aber veröffentliche, fokussiere ich mich irgendwie mehr auf die positiven Dinge. Ausserdem weiss ich ja immer noch nicht genau, wer das hier wirklich liest, und das macht mir immer noch ein bisschen Angst, manchmal nicht zu wissen, wie weit ich mich einem Gegenüber bereits geöffnet habe – ich hab wirklich keine Ahnung, wer diese Briefe wirklich liest… (let me know please!). Auch wenn wir anderes auch thematisieren, freut es mich doch immer sehr, meine Freude für etwas mit dir zu teilen. Ich habe fast das Gefühl, ich achte mich ein wenig besser auf schöne und erfreuliche Kleinigkeiten in meinem Alltag. Wenn das nicht ein wunderbarer Nebeneffekt dieser Brieffreundinnenschaft ist!
Ich habe mir in letzter Zeit generell viele Gedanken über Freund*innenschaften gemacht. Ich bin nicht immer so gut darin, die zu schliessen, geschweige denn, sie auch zu halten. Es verunsichert mich zum Beispiel enorm, dass ich manchmal das Gefühl habe, meine Freund*innen haben alle viel mehr Leute ausserhalb unserer übriggebliebenen Gymi-Gruppe. Ich werde ein bisschen eifersüchtig. Aber dass ich eben schnell eifersüchtig werde, weisst du ja bereits. Ich weiss nicht, ob du da mitfühlen kannst. Du hattest nämlich zum Beispiel auch deine Leute von der Uni, während ich keine einzige anhaltende Freundschaft geschlossen habe in Zürich. Erst im Praktikum dann vielleicht. Hoffentlich. You know who you are ;)
Jedenfalls habe ich manchmal das Gefühl, dass es eine Art Versagen ist, dass ich keine andere Freund*innengruppe habe ausser euch. Wenn ich eine Geburtstagsparty mache, dann kennen sich alle bereits. Und obwohl das wirklich wunderbar ist, sind wir uns alle immer noch irgendwie nah, obwohl wir uns nicht mehr so oft sehen, fühlt es sich manchmal eben doch irgendwie nach Scheitern an. Ich weiss nicht, ob das Sinn macht. Ich will auch wirklich nicht sagen, dass ich lieber andere Freund*innen hätte, versteh mich nicht falsch. Ich wäre einfach gerne ein bisschen besser darin, Leute kennenzulernen und dann auch etwas aus diesen Bekanntschaften zu machen. Über den Smalltalk-Punkt herauskommen. Worauf ich hinaus will: zum ersten Mal seit Langem habe ich das Gefühl, das ein wenig ablegen zu können. Jetzt in Basel an der Uni treffe ich wieder neue Menschen, ich umgebe mich nicht mehr nur immer mit denselben Leuten. Und ich habe gemerkt, dass ich nicht mehr ganz so nervös werde um neue Leute herum. Ein positiver Effekt des Älterwerdens, denke ich. Das geniesse ich gerade sehr.
Sonntag, 31. März 2024
Ich habe gemerkt, dass ich gar nicht aufgeschrieben habe, warum ich so verkatert war am Freitag. Keine crazy Geschichte oder so, aber ich war im Ausgang mit einigen Leuten vom Handball. Saisonabschluss. Es war sehr witzig. Und auch wild. Und ich habe wirklich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr so viel getrunken. Ich hatte, glaube ich, auch noch nie so einen Kater wie am Freitag. Es war wirklich schlimm. Ich habe sogar zum Abendessen nur eine Bouillon gemacht, weil ich noch nicht ready für anderes war. Du hast ja letztens gesagt, du willst wieder einmal richtig viel trinken und tanzen gehen. Das habe ich jetzt wieder abgehackt für eine Weile. Hatte ich nämlich auch schon lange nicht mehr. Aber ich tanze auch nicht so gerne, das weisst du ja. Am Donnerstag im Club auf dem Dorf, war es aber doch ganz schön toll.
Zum Abschluss dieses Chaos noch die Kategorien:
Etwas zum Glotzen: Musical-Loch immer noch going strong, darum eine weitere Tony Performance. Dieses Mal aus «Hadestown», https://www.youtube.com/watch?v=MWtjGIV1sMQ
Etwas zum Lesen: Diesen Artikel über den Trend der «Trad Wives» (ufff), https://www.newyorker.com/culture/persons-of-interest/the-rise-and-fall-of-the-trad-wife
Etwas zum Essen: Bouillon nach dem Ausgang (und am Tag danach)! Gamechanger!
Etwas zum Hören: «Still Waiting» von den Kaiser Chiefs
Ich hoffe, du hast Spass im Osterkurs und ihr versalzt das Essen nicht!
Alles Liebe
Michelle



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