Liebe Vera
- Michelle Harnisch
- 29. Apr. 2024
- 6 Min. Lesezeit
Ja, ja, Asche über mein Haupt, ich bin spät dran. Sehr spät lol. Aber du weisst, ich hatte in der ausgelassenen Woche einen Vortrag und die Prüfungs- und Abgabenzeit beginnt schon bald wieder. Aber passiert, ich hoffe, du vergibst mir so einfach, wie ich es mir selbst tue.
Eigentlich hatte ich einen sehr herzigen Brief geplant. Der letzte Brief wäre in der Geburtstagswoche meines Bruders gepostet worden, und ich wollte über meinen Bruder und mich schreiben. Du weisst ja, dass ich, glaube ich, mit niemandem enger bin als mit meinem Bruder. Vielleicht manchmal mit S. und manchmal mit dir und anderen Freundinnen, aber so eine Geschwisterbeziehung ist eben doch nochmal anders. Ich habe leider gemerkt, dass es mir sehr schwerfällt, über meinen Bruder zu schreiben. Denn schnell wird es dabei kitschig und obwohl ich sonst eigentlich immer das Gefühl habe, dass ich so ziemlich alles irgendwie beschreiben kann, wenn ich lange genug darüber nachdenke (vielleicht ein grössenwahnsinniger Gedanke), bin ich daran gescheitert. Ich finde keine Worte dafür, eine grosse Schwester zu sein. Denn obwohl im Grunde genommen ja jeder Text zu kurz greift, egal über was man schreibt, und man immer noch weiter ausführen könnte, bla bla bla, hat der Text, den ich geschrieben habe, eben wirklich zu kurz gegriffen. Er hat sich überhaupt nicht richtig angefühlt. Hier trotzdem zwei kurze Abschnitte daraus, aber der Rest bleibt erstmal unter Verschluss.
Mein Bruder und ich sind uns immer noch sehr nah. Es ist natürlich etwas anders geworden, seit ich nicht mehr bei unserer Mutter wohne. Unsere Gespräche haben sich ans Telefon verschoben. Es gibt Wochen da telefonieren wir sechs Mal. Es gibt Tage, da telefonieren wir drei Mal. Wir nennen es unsere täglichen «Yap-Sessions». Denn ich kann mit niemandem so gut über belanglose Dinge reden wie mit ihm. Das mag ich wirklich besonders gerne.
Eine grosse Schwester zu sein ist nicht so speziell, das ist mir schon bewusst. Aber trotzdem ist es irgendwie etwas, an das man sich nie so richtig gewöhnt, finde ich. Wenn ich überlege, bin ich nie so beschützerisch, wie wenn es um meinen Bruder geht. Ich mache mir um niemanden mehr Sorgen, ich «müetterle» bei niemandem so sehr wie bei ihm, und auch wenn ich mich dafür schäme, traue ich ihm doch immer noch nicht so viel zu, wie er es verdient hätte. Denn er ist seit dieser Woche 22 Jahre alt. Natürlich kann ich ihm eigentlich alles zutrauen. Aber irgendwie fällt mir das bei ihm doch noch immer schwer. Vielleicht kannst du da relaten. Immerhin bist du auch eine grosse Schwester.
Ja, leider nicht so viel, wie du dir vielleicht erhofft hast, aber vielleicht ist das auch okay. Es ist schliesslich auch ein grosses Unterfangen, eine ganze Beziehung in einen einzigen Text einschreiben zu wollen.
Ansonsten sind die Tage gerade wieder ziemlich durchzogen. Ich mag die Tage an der Uni, die wenigen Sonnenstrahlen der letzten Wochen, mit dem Fahrrad durch die Stadt zu fahren, und meine Ferien mit S. zu planen. Wir haben jetzt alle Züge gebucht (wir brauchen vier Tage bis wir in Tromsø, Norwegen sind, lol) und ich habe begonnen, eine Packliste zu schreiben.
Auf der anderen Seite schleicht sich eben auch der Unistress langsam wieder ein. Ausserdem muss ich wieder eine Trainingspause machen, weil mein Knie wieder entzündet ist. Die gleiche Scheisse wie letzten Sommer. Ich will mich nicht zu sehr beklagen, wenn ich an unsere Freundin denke, die ihr Knie gerade komplett zerstört hat, und immer noch an Krücken geht, aber es fuckt halt trotzdem up (Anglizismen schleichen sich seit dem Studienbeginn übrigens wieder viel häufiger in meinen Sprachgebrauch, ich hoffe, es ist noch auszuhalten. Sonst gerne rückmelden!). Ich bin also wieder in meinem zwei Mal die Woche Physio Rhythmus, mein Knie ist mit farbigem Kinesiologischem Tape eingeklebt, und ich darf nicht rennen. Obwohl ich gerade so gerne rennen würde. Natürlich will ich, glaube ich, auch mehr rennen, weil ich eben nicht darf. So ist das doch immer. Aber das Handballtraining fehlt mir. Gerade auch, weil wir jetzt Techniktraining machen würden und ich da doch noch ziemlichen Bedarf hätte. Ausserdem bin ich im Juni drei Wochen weg und trainiere dann auch nicht mit. Schade war’s.
Ich schreibe diesen Eintrag ziemlich müde (auf den letzten Drücker wieder einmal, obwohl ich jetzt so lange Zeit hatte), denn ich war dieses Wochenende im Bunkerweekend mit der Pfadi. Die Stufe, die ich leite, besteht aus ziemlich selbstständigen, fast erwachsenen Teenagern und obwohl viele immer meinen, das sei das schlimmste Alter, finde ich es doch eines der besten. Wir hatten kaum ausgeplantes Programm, aber trotzdem fanden wir immer etwas zu tun, hatten grossen Spass und haben die Zeit genossen. Trotz dem Bunker. Zu dem ich ja eine Art Hassliebe habe. Obwohl der Prozentsatz an Hass viel grösser ist als der der Liebe. So 90 – 10 vielleicht. Er ist eng, stickig, dunkel und kalt. No redeeming qualities. Als Erklärung für Leute, die den Bunker nicht kennen: unsere Pfadi besitzt einen Bunker. Dort drin haben ca. 12 Leute Platz, danach wird es richtig eng. Man liegt dann so eng nebeneinander, dass man sich nicht drehen kann. Haben wir beide schon erlebt, glaube ich. Jedenfalls haben die meisten Teilnehmer*innen eine Faszination für diesen Bunker übrig und finden es sehr toll, eine Nacht dort zu verbringen. Ich glaube, von Leiter*innen-Seite sieht es meistens anders aus. Aber naja, was macht man nicht alles, für die Kinder?
Wir haben eigentlich das ganze Wochenende lang gefeuert, haben am Lagerfeuer gesungen, waren auf der Bölchenfluh, haben Fussball und Kartenspiele gespielt, viel Scheiss geredet, viel gelacht. Ich habe auch, wie immer in der Pfadi oder vielleicht einfach wie immer, viel geschrien und bin etwas heiser. Aber das gehört irgendwie auch dazu. Das Einzige, was mich gerade noch beschäftigt, ist, dass mein Rucksack noch nicht ausgepackt ist und meine Haare trotz Duschen immer noch nach Rauch stinken. Uffff.
Auch gemerkt habe ich aber, dass mein Abschied von der Pfadi wohl gar nicht so einfach wird. Das Pfingstlager, wo ich offiziell mit dem Leiten aufhören werde, rückt näher und ich habe es an diesem Wochenende schon wieder gemerkt, wie viel Energie es mir gibt, mit jungen Leuten solche Dinge zu organisieren und durchzuführen. Auch hier greift vieles zu kurz, weswegen ich auf deinen «Danke Pfadi» Text verweise, den ich immer wieder lese und der mich auch immer wieder zum Weinen bringt. Vielleicht kannst du ihn ja mal in einer Woche, in der du nicht posten kannst oder so, hochladen. Jedenfalls graut es mir ein wenig vor dem Moment, in dem ich dann Tschüss sage. Ich bin jetzt doch 18 Jahre in der Pfadi und leite 9 davon. Diese Zahl macht es zum einen schwieriger, zu gehen, aber irgendwie auch einfacher. Es ist schon langsam Zeit, das weiss ich ja auch. Ausserdem hast du immer gesagt, man soll aufhören, wenn es noch schön ist. Dass es ein bisschen wehtun soll, wenn man aufhört. Und das wird es sicher tun.
Öbbis zum Luege: Letzte Woche war Cypher und wäre ich nicht so abgelenkt von der Miss Taylor Swift gewesen, hätte ich ihn wie in den anderen Jahren gebührender zelebriert. Trotzdem empfehle ich den Cypher Part von Jule X. Sehr lustig und top Beat-Auswahl.
Öbbis zum Läse: Ich lese wieder viel gerade. Nicht nur für die Uni, sondern auch sonst, und ich geniesse es. Ich muss am Rande kurz flexen und sagen, dass ich schon 35 Bücher gelesen habe dieses Jahr, darauf bin ich schon ein bisschen stolz.
Was mich in letzter Zeit sehr berührt hat, ist Tagebuch vom Ende der Welt von Natalja Kljutscharjowa. Es sind fragmentarische Aufzeichnungen einer russischen Übersetzerin, Verlegerin, Schrifstellerin, Schauspielerin. Sie ist gegen Putin, gegen den Krieg und schreibt ihre Gedanken auf. Sie verhandelt, wie man als Russ*in mitverantwortlich ist, ohne mitverantwortlich zu sein, wie man sich zu wehren versucht, ohne sich zu wehren. Nicht einfach aber sehr, sehr wichtig. Ich hab das Buch in einem Tag gelesen. Ein Zitat daraus lässt mich nicht los:
"Was soll ich tun, wenn das Einzige, was ich kann, das Sprechen ist, ich aber nicht sprechen kann? Vielleicht sollte ich nicht mehr versuchen, mich an diejenigen zu wenden, die dort sind? Und mich an die wenden, die hier sind. Diejenigen, die in ihrem Inneren auch ein Loch von dieser Rakete verspüren. Ein Loch, von dem man nicht sprechen kann. Weil diese Rakete von unserer Seite kam. Und weil alle unsere Worte auf ihr geschrieben stehen."
Öbbis zum Lose: Ja, ich muss das neue Taylor Swift Album sagen. Davon habe ich jetzt nicht so viel geschrieben, weil es doch ziemlich ausgeschlachtet wurde in allen Medien, glaube ich. Es sind 31 Lieder, ich war beim Release etwas überfordert, aber auch sehr Hype. Ich freue mich immer mehr aufs Konzert! Weil ich weiss, dass niemand als Tipp ein ganzes Album hört, empfehle ich mein momentanes Lieblingslied vom Album: The Bolter.
Öbbis zum Ässe: Hear me out: Vegi Cipolata von MBudget. 5 Stück für irgendwie 3 Stutz oder so. Sie sind ein bisschen reudig, aber auch ziemlich geil. Das war unser Mitternachtssnack im Bunkerweekend. Über dem Feuer in einem Topf gemacht. Dazu dieses Fertig-Knoblibrot, auch aus der Migros. Es war ein Festmahl.
Ja, das war’s auch schon. Ich glaube, etwas wirr. Etwas müde. Aber vielleicht wird das im nächsten Monat auch immer ein bisschen so. Die To-Do Listen werden länger, die Tage aber zum Glück auch. Ausserdem bin ich froh, sehen wir uns gerade so viel. Auch wenn es manchmal nur kurz ist. Ich schätze das.
Alles Liebe,
Michelle



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