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Liebe Vera

  • Michelle Harnisch
  • 27. Mai 2024
  • 5 Min. Lesezeit

Ich möchte dir danken für deinen wirklich sehr schönen Text, den du geschrieben hast. Ich musste ein bisschen weinen, als ich ihn gelesen habe. Es ist tatsächlich so, dass wir in der Pfadi nicht so gut sind mit den Abschieden. Vielleicht ist das aber auch gut so, denn immerhin hören immer wieder Leute auf und ich glaube, wenn wir erst einmal anfangen würden, würden wir aus dem Verabschieden gar nicht mehr herauskommen.

 

Ich glaube, ich habe dir zu viel versprochen, was diesen Brief angeht. Er ist doch nicht so lang geworden und wieder einmal eher bruchstückhaft. Darum teile ich zuerst einige Eindrücke und Textfetzen aus dem PfiLa, die ich während des Lagers in meine Notizen-App geschrieben habe. Einige sind nicht so deep, wie andere.

 

Ich sitze mit zwei Leitern im Auto, «Love Story» von Taylor Swift läuft auf höchster Lautstärke (zu meiner Verteidigung: ich bediene Spotify nicht!), und der Fahrtwind bläst durch die offenen Fenster ins Auto. Ich denke daran, dass es mein letztes PfiLa ist, dass wir in zehn Minuten bei der Gruppe sein werden und ich tschüss sagen werde. Ich denke daran, dass der Leiter, der rechts von mir sitzt, früher eines meiner Wölfli war, danach ein Teilnehmer in den Pfadilagern, dann einer meiner Pios und jetzt ist er Rover und sitzt neben mir im Auto, sein Bein ist an meines gedrückt, weil wir zu wenig Platz haben, er fährt mit uns ins Materiallager im Lieferwagen, den wir jedes PfiLa ausleihen, mein Rucksack, der auf der Ladefläche nicht mehr Platz hatte, liegt quer auf unserem Schoss und trotzdem läuft das Lied, das ich bereits als Kind gehört habe. Und auch wenn es kitschig ist, muss ich mich zusammenreissen, um nicht zu weinen zu beginnen, weil ich die ranzigen Autofahrten vermissen werde. Weil ich das Gefühl habe, nie mehr so crazy Sachen zu machen wie mit der Pfadi. Weil ich Angst habe, das Kindliche in mir zu verlieren, wenn ich nicht mehr um Kinder bin, dass ich einen Teil von mir, der jetzt 18 Jahre lang so wichtig war, verlieren werde. Auch wenn ich mich nicht über Hobbys definieren möchte, geht das bei der Pfadi kaum anders. Ich muss mich, glaube ich, irgendwie noch finden ohne diese Verantwortung, diese besetzten Wochenenden, die weinenden Kinder, den Lagertee (ich mein de Gossip lol). Ich weiss noch nicht wirklich, was ich machen soll, jetzt, wo ich nicht mehr in der Pfadi bin. Aber dann denke ich daran, dass ich den Moment geniessen sollte und nicht jetzt schon daran denken sollte, was noch kommt. Und dann versuche ich, den Fahrtwind auf meiner Haut genau zu spüren, ignoriere den Schweissgeruch in der Fahrerkabine und konzentriere mich auf «Love Story» von Taylor Swift. Auf das ehemalige Wölfli neben mir. Auf den Freund, der seit eh und je mit mir in der Pfadi ist, den ich kenne, seit wir beide Wölfli waren, der jetzt das Auto fährt und vielleicht ähnliches denkt, weil auch er bald nicht mehr so involviert ist. Ich geniesse den Moment, versuche, ihm nichts allzu Spezielles abzugewinnen und konzentriere mich auf die Vorfreude aufs Bier nach dem offiziellen Ende, wenn die Kinder gegangen sind, und die Dusche danach.

 

Eines der komischsten Gefühle ist es, morgens allein auf dem Lagerplatz zu stehen. Es ist fast ähnlich, wie wenn man in den Ferien auf dem Campingplatz frühmorgens aufs Klo gegangen ist. Nur kennt man hier alle. Man steht auf, meistens raucht die Feuerstelle immer noch ein bisschen, weil wir am Abend zuvor so krasse Glut hatten, die Wiese ist nass und obwohl man weiss, dass in all diesen Zelten Leute noch schlafen, fühlt man sich ganz allein. Ich habe dieses Gefühl immer sehr genossen. Als Person, die nicht wirklich gut ausschlafen kann, ist mir das nämlich regelmässig passiert. In einem Lager, in dem man non-stop um Kinder oder andere Leiter*innen herum ist, sind diese Momente allein, wirklich allein, sehr schön. Ich versuche, diese Ruhe aufzusaugen.

 

Er beugt sich zu mir hinunter, seine Stimme ist etwas leiser als noch zuvor. Er nervt sich ab einem anderen Leiter, erklärt mir warum. Was er gesagt hat, während ich am Block war und es daher nicht gehört habe. Ich steige ein. Lasse mich davontreiben vom Geläster, vom Generve und frage mich, ob ich je wieder neben einem Zelt stehen werde und über die Person lästern werde, die im Zelt sitzt.

 

Das war’s. Meine Pfadikarriere zusammengefasst oder so. Ansonsten ist diese Woche doch noch einiges passiert. Wir haben ganz schön viel Zeit zusammen verbracht, was schön war. Am Mittwoch hätte ich eigentlich ein Ticket gehabt für die Dreigroschenoper, die ich mir noch einmal ansehen wollte. Aber ich war dann zu hibbelig und irgendwie durcheinander und ein dreieinhalbstündiges Theater war dann nicht der Vibe. Dann hab ich bei dir auf der Dachterrasse gechillt und dich vom Lernen abgehängt. Obwohl du nächste Woche sechs Prüfungen hast. F. hat sich zu uns gesellt und wir haben lange geredet. Mit Ausblick auf den Roche-Turm.

 

Auch gesehen haben wir uns natürlich an der lange erwarteten WG-Party von S. am Freitag. Sie hat gehalten, was sie versprochen hat. Im Chat waren 63 Leute und obwohl nicht ganz so viele gekommen sind, war die Wohnung doch sehr voll. Zeitenweise war jeder Raum voll. Sogar auf dem Gang standen die Leute eng aneinandergedrückt. Ich habe meine Zeit vor allem in der Küche beim Bierpongtisch verbracht und auf der Dachterrasse. Es war schön und den Schlafmangel während dem Lernen am Samstag wert.

 

Und dann hattest du gestern natürlich noch Geburtstag! Obwohl du ihn nicht riesig gefeiert hast, war es wirklich herzig und ich habe dich wieder einmal um den Geburtstag im Sommer beneidet. Obwohl am 25. Mai zwar viele bereits im Prüfungsstress sind, sind doch noch nicht Sommerferien und daher auch immer alle hier. Ich will den Abend gar nicht zu doll beschreiben, denn immerhin warst du da, aber es war wirklich einfach schön. Es gab Kuchen, Decken im Gras, Hummus und Griechischen Salat, Foccacia, Bier und Weisswein, Kubb, einen Frisbee und natürlich Wunderkerzen! Und die Schweizer Eishockeymannschaft hat auch noch das Halbfinalspiel gewonnen und wir haben das Penalty-Schiessen auf meinem Handy geschaut. Was für ein Abend <3

 

Zum Glotzen: Ich glotze zu viel momentan. Dafür, dass die letzte Semesterwoche beginnt jedenfalls. Ich glaube, du schaust das schon oder hast es schon geschaut (vielleicht hat es jemand von uns sogar schon einmal empfohlen?), aber ich bin wieder einmal bei «Modern Family» gelandet.

 

Zum Lesen: Gerade lese ich «Things I Don’t Want To Know» von Deborah Levy. Eine Art Autobiographie, die sich aber auf ihr Schreiben fokussiert. Sie ist aufgewachsen im Südafrika der 60er-Jahre, beschreibt sehr eindrückliche Szenen ihrer Kindheit. Auch sehr viele kluge Gedanken zu Frau-Sein und Mutterschaft und vielem anderen.

 

Zum Essen: Den Kuchen, den ich dir gebacken habe zum Geburtstag! Sorry, ich muss noch kurz flexen, ich war sehr stolz. Earl Grey Kuchen (etwas zu wenig Earl Grey) mit Zitronen-Buttercreme. War ein Banger!

 

Zum Hören: Das neue Billie Eilish Album «HIT ME HARD AND SOFT». Wenn du keine Geduld hast für ein ganzes Album dann die Songs «LUNCH» und «BIRDS OF A FEATHER».

 

So, jetzt mache ich mich bereit für meine Prüfungen. Und für Norwegen. Langsam werde ich richtig aufgeregt. Ich freue mich auf die Ferien!

 

Alles liebe

Michelle

 

 
 
 

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