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Liebe Vera

  • Michelle Harnisch
  • 4. Dez. 2023
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 1. Jan. 2024

Ich weiss, wir haben gesagt, nie wieder entschuldigen, aber es tut mir schon ein bisschen leid, dass ich mich zum ersten Mal verspäte mit unserer Post. So richtig dieses Mal, denn die neue Woche hat bereits begonnen. Dafür hast du aber zwei Briefe geschrieben, was mich ungemein gefreut hat. Was gibt es Schöneres, als einander Worte, Texte zu schenken? Ich fand deinen Brief wirklich sehr schön. Ich habe mich zu Beginn meiner Party, als noch nicht allzu viele Leute da waren, kurz davongeschlichen, bin in mein Zimmer gegangen und hab deinen Brief gelesen. Im Hintergrund meine sorgfältig kuratierte Geburi-Playlist und das Gelächter meiner Freund*innen. Nur muss ich dir leider sagen, dass du doch einige Details vertauschst oder nicht mehr ganz so präsent hast.


Bei der Party, während der du mit den Zwillingen und weiteren Freund*innen auf dem Friedhof verschwunden bist, war ich beispielsweise dabei. Bloss auf den Friedhof bin ich nicht mitgekommen. Ein paar andere und ich sind bei den Zwillingen daheim geblieben und haben währenddessen «Rubinrot» geschaut. Auch andere Dinge könnte ich jetzt noch weiter ausführen, denn wie du richtig erwähnst, bin ich die Anekdoten-Queen. Das denke ich jedenfalls gerne von mir selbst. Meine Erinnerung ist tatsächlich ziemlich gut, was solche Erlebnisse angehen. Denke aber nicht, dass Erinnerungen weniger echt werden, wenn ich öfter daran denke. Sie werden eher blasser. Ein bisschen wie bei einem traurigen Film. Wenn ich ihn zum fünften Mal schaue, werde ich meistens nicht mehr weinen, obwohl ich die ersten drei Male mega fest geheult habe. Genauso fühlen sich Erinnerungen weniger intensiv an, wenn man viel daran denkt, viel von ihnen erzählt. Ist ja schliesslich auch ein Mitgrund (achtung, sehr vereinfacht gesagt), warum Therapie meistens funktioniert. Wenn man sich mit was beschäftigt, verliert es an Intensität. 


Und ja, ich mag das Alter 24 auch. Aber ich mochte bis jetzt jedes Alter. Du weisst ja, wie gern ich Geburtstage feiere (mein Lieblingstag im Jahr!), wie sehr ich es geniesse, älter zu werden. Denn auch wenn ich es mag, gefeiert zu werden, Geschenke zu bekommen, im Mittelpunkt zu stehen, finde ich es doch auch schön, innezuhalten und einmal das Augenmerk darauf zu  legen, wie viele Fortschritte man schon gemacht hat. Wie weit man schon gekommen ist und wie weit man wohl noch kommen wird. Denn sind wir ehrlich: bis jetzt wurde es jedes Jahr nur besser. Ich fühle mich immer wohler mit mir selbst, werde selbstbewusster, schlauer, offener, irgendwie voller. Jeden Tag entfaltet man sich weiter und bis das aufhört (was ich nicht denke, dass es das irgendwann tut), finde ich, muss man Geburtstage so sehr feiern wie ich das tue. Als Lieblingstag eben, an dem man auch stolz sein darf auf alles, was man so geschafft hat in einem Jahr. 


Aber genug von meinem Geburtstag, denn wir haben uns dieses Wochenende doch schon zwei Mal gesehen. Zum Essen bei deiner Schwägerin: das hört sich alles ganz schön bieder an und macht mich froh, haben S. und ich keine älteren Geschwister. Naja, meine zwei Stiefbrüder sind zwar älter, wohnen aber beide noch zuhause und stehen an ähnlichen Punkten wie ich es tue. In einigen Jahren werden S. und ich dann vielleicht diejenigen sein, die zu steif und bieder für unsere jüngeren Geschwister sind. Diese Vorstellung gefällt mir irgendwie. Manchmal habe ich jetzt schon das Gefühl, so zu werden. Denn jetzt, wo ich zum ersten Mal in meinem Leben länger als drei Wochen am Stück Vollzeit arbeite, verheddere ich mich auch immer mehr in ebensolch biederen Mustern. Ich verbringe meine Samstage damit, die Wohnung zu putzen, Rechnungen zu zahlen, den Wocheneinkauf zu machen, für die nächste Woche vorzukochen, am besten so, dass ich fünf Mahlzeiten einfrieren kann. Erwischst du dich auch dabei? Ich frage mich, ob ich solche Muster beibehalten werde, wenn ich im Februar wieder an die Uni gehe. Ob ich das beibehalten kann oder mich wieder in Unregelmässigkeiten und Chaos verliere. Denn auch wenn so nicht alles klappt, klappt vieles doch besser, wenn ich diese Struktur habe. Ob bieder oder nicht. 


Dann nochmals ein Sprung zur Performanz: ich stimme dir, glaube ich, zu, bin aber schon wieder etwas müde, um mir tiefgründigere Gedanken zu machen. Ich muss sagen, ich mag die Vorstellung von dir, spätnachts mit dir selbst redend auf dem Velo sehr. Und finde das auch überhaupt nicht peinlich. Denn auch ich rede häufig laut in die Nacht hinein. Vor allem auf dem Velo. Etwas lauter, wenn ich Alkohol getrunken habe. Leute sprechen dann von «mit sich selbst reden», aber eigentlich rede ich da gar nicht mit mir selbst. Häufig kommen dann meine Figuren zum Vorschein. Begleiten mich, sprechen mich an, tauschen sich mit mir aus. Meistens sind es mehrere, die eine Konversation führen, die es vielleicht auch irgendwann in meine Texte schaffen. So offenbaren sie sich mir jeweils am besten. Ohne zu viel verraten zu wollen, ist da vor allem Dany, die sich mir am häufigsten anvertraut. Ich rede also weniger mit mir selbst, denn eigentlich spreche ich mit ihr. Mit Dany eben. Sie wird für mich so greifbarer und echter und manchmal ist es sehr tröstlich, jemanden wie Dany an meiner Seite zu haben. Die sich mehr traut, als ich es tue. Die lauter ist, als ich es bin. Die Ungerechtigkeiten anficht, sich für ihre Freunde und Freundinnen einsetzt, das Beste aus Situationen macht. Die aber trotzdem immer noch ganz schön viele Fehler macht und zu diesen Fehlern steht. Die ihren Emotionen folgt und sich nicht verstellt. Manchmal wäre ich gerne mehr wie Dany. Ich hoffe, das war nicht zu abstrakt. Ich vergesse, dass ich Dany und all die anderen Figuren, die sie umgeben, noch mit niemandem geteilt hab. (Zuerst habe ich ein «Entschuldigung, das war zu abstrakt» getippt, mich dann aber an unsere Abmachung erinnert. Keine Entschuldigungen mehr! Find ich gut, vergess’ ich aber selbst immer wieder!) Aber ja, wie geht es dir damit? Du schreibst doch auch immer wieder. Wie lernst du deine Figuren kennen? Oder schreibst du eher (achtung, das klingt etwas abschätzig, so mein ich das aber nicht) poetry-slam-mässig? Essay-mässig oder so? Bin da nicht so Genre vertraut, aber ich denke, du verstehst meine Frage. Ein Abschnitt aus Julia Webers «Vermengung» (ja, ich komm schon wieder mit diesem Buch, weil es mich seit zwei Jahren einfach nachhaltig beschäftigt!), den ich sehr mag und den ich für sich selbst sprechen lassen möchte:

 

Das Schreiben ist etwas ganz Kompliziertes, sage ich. Und das Leben auch, sagt H. Das Leben ist etwas ganz Kompliziertes, sage ich, und deswegen ist das Schreiben so schön. Denn, wenn wir schreiben, müssen wir nicht direkt über uns selbst nachdenken, aber weil wir ja nur von uns selbst aus denken können, denken wir auch während des Nachdenkens über eine Figur oder Geschichte gezwungenermaßen über uns selber nach, aber eben auf eine indirekte und daher unbewusstere und daher angenehmere Art und Weise.


Vielleicht rede ich also doch nicht mit Dany, sondern mit mir selbst? Das kann man jetzt so auslegen, wie man will, denke ich. 

Das Letzte, worüber ich schreiben möchte, ist der Schnee. Denn ja, es lag tatsächlich Schnee an meinem Geburtstag. In Basel nicht so richtig, daher war er eher nebensächlich und die Kälte überwog. Heute wurde aber die Landschaft während meiner Zugfahrt nach Zürich immer weisser. Und ja, in Zürich lag sogar in der Stadt noch ein bisschen Schnee. Der Innenhof des Gebäudes, wo unser Büro ist, war sogar so eisig, dass ich mehrere Male fast ausgerutscht bin. Fast schon gefährlich. Ich denke, den Leuten merkt man immer an, wenn Schnee liegt. Auch wenn sie es nicht offen zugeben, spüre ich doch irgendwie dieses Aufgekratzte, dieses Aufgeregte. Nur die Züge haben Verspätung und die Leute mögen das nicht. Obwohl ich es persönlich auch schön finde, wenn wir ab und zu merken, dass wir doch nicht alles, was wir gerne beeinflussen würden, beeinflussen können. 


So, ich erlebe einen etwas uninspirierten Montag (vielleicht ist es auch das, was unsere Freundin «Nach-Geburtstags-Melancholie» nennt) und beende diesen Brief schon. Zuletzt möchte ich sagen, dass ich dir von Herzen danke. Nicht nur für den Geburtstagsbrief, sondern auch für die Blumen. Denn Geburtstage im Winter bedeuten fast immer eine grosse Absenz von Blumen. Darum umso schöner, hast du mir so schöne Farbe ins Haus gebracht. In diesem Sinne: Vielen Dank für die Blumen! 


Alles Liebe und bis bald,


Michelle


PS: Ich freue mich auf einige Sachen übrigens auch mehr als sonst, weil ich weiss, dass ich dir davon erzählen kann. Ausführlich und in-depth und ohne Unterbrechung. Und ja, vielleicht auch etwas ausgeschmückt 😉 Aber das ist auch okay, denn wo bliebe denn sonst die Spannung?


PPS: Wetten das? War, glaube ich, richtig scheisse. Die ganze Show und v.a. Thomas Gottschalk sind nicht sonderlich gut gealtert. Er hat zu einem Kind im Rollstuhl gesagt, er sei ja richtig aufgestellt, für so einen kleinen Jungen, der an den Rollstuhl gefesselt ist. Yikes. Dann hat er Witze darüber gemacht, dass Shirin David klassische Musik hört und sie hat ihm ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, dass seine grosse Überraschung darüber sehr unangebracht war. Yikes again. Aber iconic von Shirin, sie ist die Queen <3


 
 
 

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