Liebe Vera
- Michelle Harnisch
- 24. Sept.
- 5 Min. Lesezeit
Es regnet wieder oder immer noch. Gestern und heute mehr Niesel als richtiger Regen. Das heisst, dass ich Probleme mit meinen Locken habe (Triggerwort: Frizz) und deine gut aussehen. Ausserdem hat das Semester wieder angefangen und ich habe die erste Woche überstanden, juhui! Dieses Semester war das alles etwas einfacher als beim letzten. Ich bin emotional stabiler, mein Zimmer ist aufgeräumter (seit fast zwei Wochen, wow!) und am Wochenende haben wir sogar noch meine Lampe aufgehängt. Naja, ich habe L. und S. machen lassen, war ihre Handlangerin, die ihnen Schraubenzieher gereicht hat und die Sicherung ein- und ausgeschaltet hat. Und Fotos gemacht habe ich auch, für den Insta-Dump natürlich. Nach zweieinhalb Jahren in dieser Wohnung habe ich nun endlich keine nackte Glühbirne im Zimmer, was für eine Leistung.
Wie gesagt, habe ich sehr gut gestartet. Denn Plottwist: Eigentlich liebe ich mein Studium. Ich liebe mein Fach. Ich liebe Literatur. Und eigentlich macht mir die Uni, wenn ich vorbereitet und aufmerksam bin auch sehr viel Spass. Ich habe zum Beispiel ein «Ulysses» Seminar. Ein ganzes Seminar für ein einziges Buch. Wie cool ist das denn? Gestern hatte ich eine Vorlesung bei einem Gastdozenten, der als «einer der wenigen Spezialisten für Mykenische Schrift/Linear B» (vereinfacht und reduziert erklärt: eine Art Vorvorstufe des Griechischen) vorgestellt wurde. Es ging um Entstehung und vor allem das Sterben von Schriftsystemen und Sprachen, Schriftlichkeit vs. Mündlichkeit, etc. mit Fokus eben auf das Mykenische. So unglaublich spannend! Ich kann eine Seminararbeit zu Taylor Swift schreiben, in der ich ihre Texte auf religiöse Motive in Bezug auf Liebe und Beziehungen analysiere. Wer kann das schon von sich behaupten?
Natürlich ist es auch die Semesteranfangseuphorie, die jetzt gerade aus mir spricht. Denn Prüfungen und Prokrastination und latente Panik vor dem Workload und Deadlines kann man nicht konsequent ausklammern. Aber es lohnt sich doch, mich immer wieder daran zu erinnern, dass Literaturwissenschaften absolut mein Shit sind, obwohl wenn es sich nicht immer ganz so anfühlt. Und eigentlich weiss ich doch ganz gut, dass ich in diesen Fächern ganz gut aufgehoben bin. Auch wenn mir das System nicht immer so sehr entspricht. Naja, das gute Gefühl beruhigt mich jedenfalls. Vor etwa einem Jahr habe ich einen Brief mit «So, da bin ich wieder. Frisch ins Semester gestartet und wie gehabt mit einer leichten bis mittleren Lebenskrise.» angefangen. Es wird also tatsächlich besser und einfacher, das beruhigt mich.
Sonst geht gerade irgendwie viel aber auch wenig. Also, ich meine, es geht viel und ich habe viel Programm, aber weil ich immer noch keinen wirklichen Job habe und alle Univeranstaltungen auf zweieinhalb Tage gelegt habe, habe ich auch viel Zeit den Tag hindurch. Diese Gleichzeitigkeit von keine Zeit haben, aber nicht wirklich beschäftigt sein, verwirrt mich etwas. Bleibt aber wohl nicht lange so, wenn wir wieder regelmässig Handballspiele haben, die Prüfungen und Abgaben näher rücken und die Geburtstagswelle in meinem Freund*innenkreis und der Familie beginnt. Die viele freie Zeit gerade macht mir auch meinen Vorsatz, meine Bildschirmzeit zu reduzieren, nicht einfacher. Ich versuche gerade, unter eineinhalb Stunden zu bleiben. Mir gelingt es so an vier oder fünf von sieben Tagen. Je nach Woche halt. Dafür habe ich endlich die Gitarre meines Bruders nach Basel genommen. Da es gerade noch neu ist, nur für mich etwas Musik zu machen, mache ich das seit so drei Wochen fast jeden Tag. Meine Skills sind je nach Lied, das ich übe, irgendwo zwischen unterirdisch und passabel. Entschuldigung an P. an dieser Stelle. Ansonsten hatten wir unseren ersten Handballmatch, worüber ich mich sehr gefreut habe, mein Traum vom drei Liter Wodka-Lemon-Tower ist endlich in Erfüllung gegangen, die letzte Ladung Pullis ist im Gefrierschrank (wegen den Motten), und ich habe mich damit abgefunden, dass der Herbst jetzt offiziell angefangen hat.
Ich werde jedes Jahr besser darin, mich auf die guten Dinge am Herbst zu fokussieren. Jedes Jahr finde ich etwas mehr Wärme in der Kälte. Ich kann meine Pullis wieder hervorholen, ich trinke viel Tee, wenn es regnet, habe ich mehr Lust zum Lesen. Und ich schreibe mehr. Ich habe wieder einen guten Schub gerade. Letzten Freitag hab ich sogar noch nach dem Ausgang geschrieben! Das habe ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht: betrunken zuhause noch schreiben. Nicht am Laptop zwar. Aber ich habe im Bus und später zuhause im Bett vier Seiten mit krakeliger Schrift gefüllt. Die Texte sind sogar nüchtern betrachtet noch brauchbar. Früher habe ich immer Witze darüber gemacht, dass ich meine halbe Maturarbeit besoffen geschrieben habe (Kontext: ich habe einen Werther-Roman geschrieben). Weil ich sie in diesem Sommer, als wir jedes Wochenende zusammen Alkohol tranken, schrieb. Meine Schreibroutine war wie folgt: mit euch am Lagerfeuer irgendwo Bier trinken, etwas kriminell mit dem Velo zwanzig Minuten nach Hause düsen und dabei so laut wie möglich Musik hören, die mich auf meinen Werther (Theo forever in my heart) einstellte. Dann noch so stabile eineinhalb Stunden mitten in der Nacht schreiben. Ich habe mein erstes Buch um halb fünf Uhr morgens fertiggeschrieben. Überarbeitet wurde dann erst tagsüber.
Eigentlich habe ich keine Themen mehr, doch ich habe mir einzelne Punkte aufgeschrieben in meiner Notizen-App, die ich erwähnen wollte. Ein paar davon sind schon einige Wochen oder Monate alt und fanden sonst nie Platz. Daher hier ungefiltert (naja, ein bisschen gefiltert), die Liste:
Ich liebe es, mein Fantasy Premier League Team um halb zwei Uhr morgens betrunken im Bus umzustellen. Fabian Schär ist schon wieder verletzt. Dafür ist Cole Palmer back. Love him.
Girlhood Schattenseiten: heute ist eine Mücke in meinem Glitzer-Lipgloss kleben geblieben.
Ein absolut unterbewertetes Lebensgefühl, ist es, sich zu dritt oder viert, kreischend die Beine zu rasieren hinter der SoLa Küche. Danach mit dem Schlauch, den man zum Abwaschen benutzt, abzuspülen.
Heute habe ich einem Hund zugeschaut, der in einem Brunnen stand und Wasser trank. Ich glaube nicht, dass ich dieses Level an Zufriedenheit je erreichen werde.
Einander an die Hand nehmen im Moshpit. So doll festhalten, dass man sich nicht verlieren kann. Und obwohl man zwischen den Menschen verlorengeht, hält man sich, lässt nicht los, findet sich einige Sekunden später wieder, ein breites Grinsen auf beiden schweissnassen Gesichtern plakatiert.
Top Ten Gefühle: Mit dem Car auf Schulreise oder ins Klassenlager fahren und sich verkehrt herum auf den Sitz knien, um über die Lehne hinweg nach hinten mit den Freund*innen zu reden.
Ich habe gerade im Bus einem etwa 14-jährigen Jungen aufs Handy geschielt, der mit jemandem schreibt, den oder die er mit «My World» und drei Emojis dahinter eingespeichert hat. Meinst du, wir werden je wieder so verliebt sein, wie dieser 14-jährige Junge?
Hier noch meine Empfehlungen. Kein Druck, aber. Ich freue mich auch über Briefe ohne Empfehlungen von dir.
Etwas zum Glotzen: «Real Housewives of Salt Lake City» hat letzte Woche wieder angefangen und P. und ich haben es gemeinsam geschaut. Es wurde schon in der ersten Folge sehr viel geschrien, das hat mich abgeholt. Nur die Horrorfilm-Storyline verstehe ich nicht, die könnte man getrost weglassen.
Etwas zum Essen: Suppe! Egal welche! Endlich ist wieder Suppenwetter, und ich freue mich auf den Moment, wenn unser Gefrierschrank voller Suppentupperware ist statt voller Wollpullover.
Etwas zum Lesen: Diesen Substack-Artikel, in dem die Autorin überlegt, was eigentlich mit der Abkürzung ROFL geschehen ist. Ich habe mich ertappt gefühlt, weil ich LOL auch so oft benutze. Vor allem beim Schreiben, wenn ich Dinge teile, über die ich eigentlich gar nicht LOLen möchte. Ich habe versucht, dem Wort aus dem Weg zu gehen für diesen Brief. https://www.girlonline.in/p/what-happened-to-rofl
Etwas zum Hören: Das neue Lied «She’s So Handsome» von Arthur Hill.
Ausdruck der Woche: Lernfreude. Wenn ich das schon mal habe.
Ich freue mich, von dir zu hören, wie du das Regenwetter überstanden hast.
Heb der Sorg!
Alles Liebe
Michelle
PS: Heute war meine Bildschirmzeit 1 Stunde und 51 Minuten. TikTok vor dem Schlafengehen (ja, ich weiss, ungesund) hat mich hopps genommen.

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