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Liebe Vera

  • Michelle Harnisch
  • 4. Feb. 2024
  • 9 Min. Lesezeit

Das ist der erste Brief an dich, den ich von Hand in mein rotes Notizbuch aufschreibe. Und das auch nur, weil ich meinen Laptop nicht dabeihabe, und ich es hasse, auf dem Handy zu tippen. Handytastaturtexte sind mir zu nah an meinen rasenden Whatsapp-Gruppenchat-Rants, wie ich sie immer noch zu oft erlebe. Schreiben mit Stift und Papier hingegen erdet mich. Zwingt mich, das zu tun, worin ich sonst so schlecht bin. Zu priorisieren. Meine Gedanken zu ordnen und zu sortieren, bevor sie aus mir herausströmen. Das ist mit einem Wasserfall aber nicht immer ganz einfach. Das Gewirr in meinem Kopf entwirrt sich nicht so leicht. Das ist mehr ein Ver(w)irren. Bevor ich aber zu meinem (und auch deinem) chaotischen Kopf und auch dem Elefanten im Raum komme, erkläre ich meine Gedanken zur Fasnacht.

 

Vorab muss ich sagen: ich mag die Fasnacht nicht besonders. Ich habe mich im letzten Jahr etwas davon gelöst, mir solche Events „schönzutrinken“, wie man sagt, und seither gefällt sie mir noch weniger. Seit eine Freundin eines Freundes K.O.-Tropfen untergejubelt bekommen hat sowieso. Aber ich mag die Ausgelassenheit unabhängig vom Alkohol. Pure Freude über (nicht mal so gute) Guggen, die ausgestreckten Hände, die in der Luft nach Orangen fischen, Kinder in herzigen Kostümen und, ja, sogar die farbigen Räppli im Haar. Ich mag auch den Chienbäse (einen grossen Feuerumzug durch die Innenstadt), die Schnitzelbängg, zu denen uns S.‘ Eltern jedes Jahr einladen. Was ich nicht mag, ist dieses Exzessive in allen Bereichen. Mir wird das gern mal zu viel. Aber ja, ich war noch nie am Morgestraich, dieses Jahr gehe ich aber mit meiner Mitbewohnerin. Ich habe noch übrige Ferientage und den Montag freigenommen. Ich freue mich.

 

So jetzt aber zum Chaos unabhängig von der Fasnacht. Das ständige, mit dem wir uns beide anscheinend mehr rumschlagen, als uns vielleicht von der anderen bewusst war oder ist. Ich fand es mutig von dir, so ehrlich von deiner ADHS-Abklärung zu schreiben. Ich finde es selbst häufig immer noch schwierig, mich so richtig damit auseinanderzusetzen. Auch wenn ich es bei euch, glaube ich, vielleicht etwas häufig erwähne. Ich kompensiere eben für die Momente ausserhalb meines engeren Kreises. Ich habe es noch immer nicht allen in meiner Familie gesagt, weil ich Angst habe vor ihrer Reaktion. Mir schlägt das Herz immer noch bis in den Hals hoch, wenn ich es jemandem zum ersten Mal sage, und wenn ich es nur in einem Nebensatz erwähne. Als ich die Diagnose vor zwei Jahren erhielt, war ich zum einen erleichtert, weil ich endlich Antworten hatte. aber irgendwie war es doch nicht so ein gutes Gefühl, wie ich mir das erhofft hatte. Abends im Bett habe ich geweint. Und ja, als dann aus meinem Freundeskreis einige erste Reaktionen ziemlich negativ ausfielen, wurde ich sehr unsicher. Ich wusste nicht immer, wie ich damit umgehen sollte.

 

Du hast selbst gesagt, dass du eine derjenigen warst, die zu Beginn eine Art Anti-Haltung hatten. Jetzt verstehe ich auch, warum. Das kann nicht einfach gewesen sein und es tut mir leid, war ich zu wenig einfühlsam, und bin es manchmal immer noch, um solche Dinge zu verstehen. Sie sind schwierig, diese kleineren Verletzungen, die sich in langen Freundschaften, wie wir sie haben, anhäufen können, nie wichtig genug scheinen, um darüber zu reden, aber sich eben doch stapeln. Aber ich will das gar nicht nochmals gross aufgreifen. Wir haben uns ja getroffen und darüber geredet. Jedenfalls hoffe ich, dass dir die Diagnose hilft, und in einem seltenen Moment der Verletzlichkeit teile ich einen Text mit dir, den ich geschrieben habe, als ich einige Monate nach der Diagnose begonnen habe, Medikamente zu nehmen.

 

In den letzten Wochen habe ich mich selbst auf eine ganz neue Art kennengelernt. Die Medikamente machen mich nicht komplett zu einem neuen Menschen, wie ich es befürchtet hatte, doch sie helfen mir. Helfen mir, mich zu konzentrieren, zu strukturieren, zu planen. Eine neue Welt hat sich mir eröffnet, doch ich bin immer noch nicht zu 100 Prozent sicher, wie ich zu dieser Medikation stehe. Natürlich hilft sie mir enorm, doch wenn ich die Verpackung ansehe, in den Händen halte, dann beunruhigen mich die Worte, die da stehen, noch immer. „3.10.1951 BG über die Betäubungsmittel“ steht in einem roten Viereck auf der kleinen Kartonbox. Darüber das weisse Schweizerkreuz. Das alles macht mich doch etwas nervöser, als ich zugeben würde. Die Reaktionen auf meine Diagnose und die damit verbundenen Medikamente waren nicht alle gleich. Die wichtigsten Menschen haben verständnisvoll reagiert. Haben mich gebeten, es ihnen zu erklären. Viele hatten mir geraten, mir keine Medikamente aufschwatzen zu lassen. Sie waren verwirrt, als ich ihnen erklärt habe, dass ich explizit nach den Tabletten gefragt habe. Meistens schimmerte dann eben trotz dem Verständnis durch, was sie von den Medis halten. Solche banalen Dinge wie Vergesslichkeit oder Unzuverlässigkeit sollte man nicht mit Medikamenten fixen müssen, sondern durch Struktur und Zusammenreissen, allerhöchstens einer Therapie. Doch das ist schwieriger, als sie jeweils meinen. Das alles lässt sich nicht einfach so korrigieren. Denn sie verstehen nicht, was in mir drin überhaupt passiert. Wie soll ich ihnen schon die ständige Aufgekratztheit beschrieben, die ich fühle. Dieses seltene Runterkommen, die schwirrenden Gedanken. Die anderen können nicht sehen, dass in meinem Kopf immer 50 Tabs gleichzeitig offen sind. Ich stehe ständig unter Storm, nur merkt man es mir meistens nicht an. Das geschieht alles in mir drin. Ich spiele zwar oft mit meinem Stift und wackle mit dem Fuss oder Bein auf und ab, doch viel fester zeichnet sich das alles gegen aussen nicht ab. „Mädchen-ADHS“ hatte es die Psychologin genannt. Darum hatte man es bis jetzt auch nicht für nötig gehalten, mich abzuklären. In den letzten drei Monaten habe ich mich oft gefragt, ob eine frühere Abklärung zu meinem Vorteil gewesen wäre. Ich hatte keine Mühe in der Schule gehabt. Sogar im Gymi war das nie ein Thema gewesen. Ich hatte das alles kompensieren können. Ich war schlau genug gewesen, um nicht lernen zu müssen. Und wenn ich hätte lernen müssen, dann hatte ich das einfach nicht getan. Schliesslich hatte ich immer gewusst, dass ich in meinen Lieblingsfächern gut genug war. Dort hatte ich auch gelernt. Denn dort hatte mir die 5 nicht gereicht. Ich hatte die 6 gewollt. Ich habe meine schwächeren Fächer kompensieren können. Da war dieser 1er in der Mathe-Matur gar kein Thema gewesen. Die anderen aus meiner Klasse hatten mich fast schon bewundert, wie egal mir das alles gewesen war. Sie hatten mir gesagt, wie gerne sie so wenig auf ihre Prüfungen hätten geben können. Wenn ich ehrlich bin, war das nicht von Anfang an mein Plan gewesen. Ich hatte bloss nicht gelernt. Es war nicht so, dass ich mich wirklich aktiv dazu entschlossen hatte. Aber ich hatte zu spät angefangen, dann schnell wieder aufgehört und nur einen Nachmittag lang wirklich mit meinen beiden Freundinnen geübt. Dort erst hatte ich gemerkt, wie verheerend die Lücken wirklich waren. Wie wenig Chancen mir blieben. Also hatte ich dann während der Prüfung einfach mein Frühstück gegessen. Hatte die Aufgaben durchgesehen, hatte versucht, sie zu lösen, aber war nirgends über den ersten Rechnungsschritt herausgekommen. Bei keiner einzigen Aufgabe. Also habe ich es sein lassen. Nach bereits einer der vier Prüfungsstunden habe ich das leere Blatt abgegeben. Eine Mitschülerin hatte laut lachen müssen, als ich nach vorne gegangen bin, und ich hatte mich fast schon cool gefühlt. Ich bin von einer Mitschülerin als „Legende“ bezeichnet worden. Natürlich habe ich nie zugegeben, dass ich wirklich nichts gewusst hatte. Ich habe mitgespielt, habe mich dem Branding angepasst. Mir war es einfach so egal gewesen, Mathe war es mir nicht wert gewesen, irgendetwas auszufüllen. Doch die Enttäuschung meines Mathelehrers hatte mich mehr getroffen, als ich zugegeben hätte. Und natürlich hatte ich gewusst, dass ich keine Bestnote schreiben würde. Aber dass ich gar nichts wusste? Ich hatte mich dumm gefühlt. Nicht nur, weil ich die Aufgaben nicht verstanden hatte, sondern vor allem, weil ich mich so wenig hatte einschätzen können, dass ich wirklich so lange geglaubt hatte, ich sei bereit für diese Prüfung. Das ist ein Thema, welches mir altbekannt ist. In meinem Leben habe ich oft so getan, als wären mir Dinge weniger wichtig, als sie es in Wirklichkeit waren. Als wären sie es nicht wert, grossen Aufwand zu betreiben oder viel Kraft reinzustecken. Doch innerlich hätte ich es meistens gerne besser gekonnt. Wie oft ich Dinge vergessen habe, zu spät gemacht habe, zu lange aufgeschoben habe, kann ich gar nicht mehr zählen. In der Uni ist es mir schon ganze vier Mal passiert, dass ich eine Deadline einfach straight up vergessen habe und am Tag der Abgabe eine E-Mail an Dozierende schreiben musste, in dem ich mich mit meinem ADHS outete und um Aufschub bat. Auch das ist schon lange ein Problem. Denn natürlich hätte ich die Lateinstunden lieber besucht, wenn ich die Hausaufgaben auch wirklich gemacht und nicht von einer Freundin abgeschrieben hätte. Natürlich wollte ich mehr lernen, aber anscheinend war es mir ja einfach nie genug wichtig gewesen. Sonst hätte ich das schon getan. Dass ich das nicht bloss nicht tat, sondern einfach nicht konnte, hatte ich mir bis jetzt nie eingestanden. Es war auch nie jemandem aufgefallen, weil meine schulischen Leistungen trotzdem gut gewesen waren. Wer konnte schon von sich behaupten, einen 4.8 Schnitt im Maturzeugnis zu haben, obwohl da im Mathe eine fette 2.5 stand? Ich frage mich nur manchmal, in letzter Zeit immer häufiger, ob es mir im Gesamten besser gegangen wäre, hätte ich die Diagnose früher gehabt. Ja, ist jetzt nicht der aussagekräftigste Text, den ich je geschrieben habe, aber er beschreibt ziemlich gut, wie ich mich damals gefühlt habe und es manchmal immer noch tue. Zeigt auch meine Ängste auf, die ich verspüre jetzt, wo ich wieder an die Uni gehe. Vielleicht kannst du ja beim einen oder anderen Punkt mitfühlen. Und zum Abschluss möchte ich gerne noch sagen: Willkommen im Klub. Unser Grüppchen wächst und wächst ;)

 

Ich schreibe übrigens schon lange nicht mehr von Hand. Irgendwo in der Mitte habe ich zur Tastatur gewechselt, um meinen Gedanken etwas gerechter zu werden. Dieser Brief war ein mehrtätiges Projekt mit Abschnitten, die über die Woche gewachsen oder geschrumpft sind. Gerade schreibe ich diesen Abschluss auf dem Weg nach Basel. Es ist Sonntagabend, 23.47 Uhr und ich bin erst in einer halben Stunde in Basel. Also in Dreiviertelstunden daheim und in einer Stunde im Bett. Hoffentlich. Ich war gerade bei einer Lesung eines Autors von uns, der heute seinen 80. Geburtstag feiert: Daniel de Roulet. Die Legende, die das Axel Springer Chalet angezündet hat, von dem hab ich dir schon oft erzählt. Der, der Bücher über die Fichen, über die Abspaltung des Juras, etc. geschrieben hat. Ein Anarchist, ein Welscher, der perfektes Züridütsch redet und wohl einer der interessantesten Menschen, die ich in während meiner Zeit in die Verlagswelt treffen durfte. Er hatte ein Gespräch mit Alain Berset. Ich glaube, viele Leute waren sehr beeindruckt von Berset, aber mir gefiel er nicht so. Auch in diesem Setting, in dem er über Literatur sprach, drückte der Politiker noch sehr durch. Das Medientraining war sehr spürbar und die leeren Formulierungen eines Politikers auch immer wieder.  De Roulet war um einiges Interessanter. Er hat einige sehr schöne Dinge über die Literatur gesagt. Unter anderem: „Die Literatur zeigt mir, dass das Leben allein nicht reicht. Und darum schreibe ich.“ Wie wunderbar ist das denn bitte?

 

Ich weiss, du würdest lieber über Erlebnisse schreiben statt über Gedanken, denn ja, wir drehen uns manchmal tatsächlich etwas im Kreis. Aber ich hatte keine einschneidenden Erlebnisse diese Woche. Darum einige kleine Dinge, die mich freuten: ich habe mein Zimmer aufgeräumt und jetzt sieht es wieder mega schön aus. Gestern bin ich den Match des 1. Damenteams schauen gegangen, sie haben gewonnen und ich habe wieder einmal verstanden, warum ich den Sport so mag, und warum ich gerne besser werden möchte, als ich es jetzt bin. Ich war mit S. im Kino und obwohl der Film too much war, habe ich gemerkt, dass Actionfilme im Kino etwas vom Besten sind, das es gibt. Ich habe die neue Volontärin im Verlag eingearbeitet und es macht mich ein bisschen traurig, schon so bald zu gehen, es ist aber auch schön, geht alles weiter und verändert sich gerade viel. Rede ich mir wenigstens ein. Obwohl es stressig ist. Obwohl ich es vermissen werde, mit meinen jetzigen Arbeitskolleg:innen zusammenzuarbeiten. Morgen habe ich übrigens ein Vorstellungsgespräch, also drück mir von Indien aus die Daumen, wenn du dran denkst!

 

Rubriken find ich gut, darum here goes:

 

Etwas zum Glotzen: The Bear (eine Serie mit Jeremy Allen White und Ayo Edebiri (love her!), die von einem Sternekoch erzählt, der nach dem Suizid seines Bruders dessen ranziges Restaurant übernimmt – sehr lustig aber auch sehr traurig, enorm gute Balance!)

 

Etwas zum Lesen (habe ich zwei Sachen): Hyperpolitik von Anton Jäger (bin noch nicht fertig, aber es ist klug und spannend und auch wenn ich nicht sicher bin, ob ich überall übereinstimme, ist es spannend, die Politisierung über Social Media, etc. zu analysieren); All for the Game Trilogie von Nora Sakavic (Die Bücher hab ich im Gymi zum ersten Mal gelesen und diese Woche wieder einmal gebinget – die Bücher sind nicht mal so gut, aber ich mag die Figuren sehr und es geht um eine Sportmannschaft am College, welche die erfundene Sportart Exy (Mischung zwischen Lacross und Eishockey) spielen. Irgendwann kommt dann raus, dass noch die Yakuza und eine amerikanische Gangsterfamilie im Sport mitmischen, viele brutale Mafiaszenen sind also auch enthalten. Extrem crazy, aber irgendwie genau meine Nische! Du weisst, ich liebe Sportbücher!!!)

 

Etwas zum Hören: You Lost the Breakup von Maisie Peters (Ich höre momentan viel seichten Pop mit schnellen Beats und eingängigen Refrains. Solche Lieder lassen meinen Dopaminspiegel steigen und helfen mir, mich für Sachen zu motivieren)

 

Etwas zum Essen: Burger King Pommes (Habe ich mir vorher gerade geholt, weil ich meinen Zug verpasst habe.)

 

Bis nicht so bald, geniess deine Zeit in Indien. Ich freue mich auf die Bilder <3


Alles Liebe Michelle

 

PS: Es ist ein Tag, nachdem ich dir diesen Brief bereits geschickt habe, aber ich habe noch eine Nachricht, die ich gerne teilen möchte: Taylor Swift bringt am 19. April 2024 ein neues Album raus und die Sonne scheint, darum war heute (5. Februar 2024) ein guter Tag <3

 
 
 

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