Liebe Vera
- Michelle Harnisch
- 5. März 2024
- 5 Min. Lesezeit
Ach, ach, die Uni hat begonnen und schon bin ich wieder zu spät. Natürlich nicht, weil ich so wenig Zeit habe, sondern weil ich so viel Zeit hatte wie seit einem Jahr nicht mehr. Was zum einen natürlich erfrischend ist, zum andern aber auch alles in mir ein wenig durcheinanderbringt. Ich muss mir meine Zeit wieder selbst einteilen. Ich bin nicht irgendwo angestellt, wo ich 8 Stunden pro Tag verbringen muss. Ich habe an zwei Tagen in der Woche Uni, arbeite zwei Morgen und einen Mittag in einem Café und da bleibt doch noch ganz viel Zeit für sonstiges. Zeit, die ich schon jetzt wieder mit viel Lesen verbringe, weil der Workload in einem Literaturstudium hauptsächlich aus Lesen besteht. Ich muss mich also doch wieder etwas einfinden in diesen unregelmässigen Rhythmus.
Ich habe die Uni aber ziemlich gut begonnen. Letzten Dienstag begann ich mit einer Vorlesung, welche die Widersprüche linker Literatur behandelt und unglaublich spannend ist. Leider ist sie auch unglaublich kompliziert und jeder Satz hat gefühlt mehr Inhalt als alles, was ich im letzten Jahr gelesen habe. Wieder in diesen Uni-Sound reinzufinden, braucht also wohl noch einen Moment, aber das ist auch okay. Nur gerade noch etwas anstrengend. Dir geht es nach deiner Indienreise vielleicht ähnlich. Wir haben uns ja schon zwei Mal getroffen seit deiner Rückkehr und du wirktest aber, als wärst du schnell wieder hier angekommen. Vielleicht täuscht mein Eindruck aber auch. Jedenfalls geniesse ich es gerade, wieder in Seminaren und Vorlesungen zu sitzen zu Themen, die mich so sehr interessieren, die mich motivieren, zusammen mit Leuten, die auch dieses Interesse haben. Es ist auch schön, fachlich gefordert zu sein. Wie gesagt, ist es aber auch ein bisschen schwierig, nicht gleich überfordert zu sein.
Mein Abschied beim Verlag war nicht ganz einfach, muss ich sagen, und ich vermisse das Büro schon. In meiner letzten Arbeitswoche hatte ich gleich zwei Breakdowns, der eine etwas heftiger als der andere. Was ich damit meine, ist, dass ich an zwei Abenden zuhause sass und weinte, weil ich überfordert war und nicht ganz wusste, wohin mit diesen vielen Gefühlen, die in mir herumschwirrten. Ich habe dir den Text, den ich in dieser Laune geschrieben habe, bereits geschickt, hänge ihn aber etwas revidiert hier noch einmal an.
Vielleicht hängt es unseren Leser*innen und auch dir langsam zum Hals heraus, dass ich so oft mein Schreiben thematisiere, gleichzeitig aber nie Konkretes dazu teile. Aber mein Selbstverständnis, meine Wahrnehmung der Welt lässt sich doch ziemlich oft dadurch erklären. An meinem zweitletzten Arbeitstag im Verlag war ich abends allein zu Hause. Und obwohl ich weiss, dass ich die Leute wiedersehen werde, die ich wiedersehen möchte. Obwohl ich weiss, dass ich erst jetzt meinen Master beginne, Leute ind er Branche getroffen habe, die mich mögen, die ich so mag, dass sich das alles schon finden wird, hatte ich eine kleine Sinneskrise. Es ist etwas peinlich, das zu beschreiben, aber ich habe mich im Dunkeln auf unseren Balkon gesetzt, habe zuerst Taylor Swift gehört, dann TikTok-Zusammenschnitte von Modern Family Momenten geschaut, weil ich einen besseren Grund zum Weinen brauchte, und habe drei Zigaretten am Stück geraucht. Echt nicht mein stolzester Moment.
Und an Abenden wie diesen frage ich mich dann, ob ich jemals einen Menschen treffen werde, der so viel fühlt, wie ich es manchmal tue. Aber dann denke ich an unsere Briefe, daran, wie sehr wir uns einander öffnen können, daran, wie oft ich das dann eben doch nicht tue. Vor allem jetzt, wo wir die Briefe posten. Wo alle, die es interessiert, lesen können, wie ich mich jetzt gerade fühle. Wie viel ich dann doch nicht aufschreibe, obwohl ich es gerne tun würde.
In diesen Momenten merke ich aber auch, wie ichbezogen es ist, das Gefühl zu haben, dass niemand weiss, wie es sich anfühlt, gerade so sehr zu schwimmen, dass man hin und wieder nicht ganz sicher ist, wo oben und unten ist. Ob es überhaupt noch ein Oben und ein unten gibt. Denn natürlich geht es ganz vielen Leuten so. ich bin 24, wie die meisten in meinem Freund*innenkreis. Natürlich wissen alle, wie sich Überforderung anfühlt. Wie es ist, in einem solchen chaotischen und bewegten und geschäftigen Kopf zu leben, dass man es selbst manchmal nicht mehr aushält. Aber wir reden selten wirklich darüber, weil uns in Gesprächen häufig die Worte dazu fehlen. Weil auch ich das meistens nicht aussprechen kann, wie sehr ich mich vor dem Gedanken, nicht zu wissen, wie das alles weitergehen soll, fürchte. Und vielleicht hilft es mir, wenn ich das an dich schreibe, aber sicher bin ich nicht.
Unsere Briefe fordern mich alle zwei Wochen aufs Neue heraus. Denn es ist neu für mich, das so auf mich bezogen auszuformulieren. Denn egal, wie schlecht es mir geht oder wie sehr ich mich freue (das lässt sich auf jede starke Emotion beziehen, die ich fühle), ich verarbeite das normalerweise in Szenen. Schreibe meine Gefühle Figuren zu, überschreibe Gedanken auf fiktive Leute, die so viel mehr über mich aussagen, als ich es je können werde. Denn in mir schlummern so viele Geschichten, die heruntergebrochen immer meine eigenen sind, dass ich immer eine Figur finde, der es gerade gleich geht wie mir. Du meintest, du schreibst keine Figuren. Schreibst von dir und persönlich und Gedankenfluss. Vielleicht sollte ich das öfter versuchen. Mir eingestehen, dass das gerade meine eigenen Gedanken sind und nicht Milas oder Danys oder Zeros oder Thommys oder Maltes.
S. hat mich letztens gefragt, wie es sein kann, dass ich diese Texte teile und meine Geschichten nicht. Wie es sein kann, dass Texte in diesem Blog sich weniger verletzlich anfühlen als meine Geschichten. Darum. Darum braucht es für mich schon Überwindung, überhaupt diese Namen zu erwähnen, obwohl niemand irgendwas von ihnen auf meine Geschichten schliessen kann.
Ich werde mich heute kurzfassen, denn ich muss noch Unitexte lesen. Erwähnen möchte ich noch zwei Stichworte, die ich mir in meinen Handynotizen aufgeschrieben habe, um sie nicht zu vergessen.
Ich habe dieses Wochenende die dritte Folge GNTM geschaut und wurde mir wieder einer Hassliebe zu Heidi Klum bewusst. Zum einen bewundere ich sie sehr, finde sie ziemlich cool und finde es krass, was sie alles schafft. Zum anderen ist sie auch unglaublich unangenehm, reproduziert viel problematische Sachen und ist zu allem auch echt cringe. Hast du eine spezifische Meinung zu ihr? Zu GNTM allgemein? Du weisst ja, dass ich meine Prinzipien für Realityshows gerne ausklammere.
Der ESC-Song von Nemo? I’m obsessed! Ich sehe wahre Chancen für die Schweiz und ich hoffe sehr fest, Nemo gewinnt. Sehr cooles Lied, sehr cooles Musikvideo, ich freue mich auf die Performance.
Handball. Hab ich einfach so als Stichwort aufgeschrieben. Aber gerade bin ich wieder sehr im Hype, freue mich auf alle Matchs, auf alle Trainings, habe das Gefühl, langsam besser zu werden. Es ist aber irgendwie schwierig, die Liebe zum Sport so auf die schnelle auszuformulieren. Vielleicht also ein anderes Mal. Stay tuned.
Dann klappere ich noch die Tipps der Woche ab.
Etwas zum Lesen: https://www.nzz.ch/feuilleton/frauen-im-literaturbetrieb-ld.1814558 Dieser NZZ-Artikel über Frauen im Literaturbetrieb. Er ist vor ein paar Wochen schon erschienen, beschäftigt mich aber seither ziemlich.
Etwas zum Glotzen: Das Comedy Special «Baby J» von John Mulaney, wo er über seine Drogensucht, den Entzug und ganz viel anderes spricht. Ich habe laut gelacht.
Etwas zum Hören: Weil, ich den Song schon extra erwähnt habe, unterstreiche ich ihn gerne hier. «The Code» von Nemo hat mich echt überzeugt.
Etwas zum Essen: Den Macadamia White Chocolate Proteinriegel von Clif Bars. Ich habe eine 12er Packung für 12.- gekauft (das ist vielleicht das grösste Schnäppli, das ich je gemacht habe) und bin froh um sie für den langen Unimittwoch ohne Mittagspause.
So, das war, glaub ich, der kürzeste Text, den ich bis jetzt gepostet habe. Aber naja, passiert. Ich bin gespannt, was du von deinem Unistart, deinem Heimkommen und allem anderen erzählst.
Alles Liebe
Michelle



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